1. Der beklagenswerte Zustand des deutschen Fortpflanzungsmedizinrechts
In Deutschland werden pro Jahr etwa 100.000 assistierte Befruchtungen (In-Vitro-Fertilisationen – IVF) durchgeführt; etwa 3% aller in Deutschland geborenen Kinder kommen im Wege der künstlichen Fortpflanzung zur Welt. In diametralem Gegensatz zu ihrer Bedeutung stehen die rechtlichen Grundlagen der Fortpflanzungsmedizin). Das deutsche Fortpflanzungsmedizinrecht befindet sich in einem geradezu erbärmlichen Zustand: Das aus dem Jahr 1990 stammende Embryonenschutzgesetz (ESchG) ist – auch im Hinblick auf den medizinischen Fortschritt – veraltet, als Strafgesetz von repressivem Charakter und in Teilen verfassungsrechtlich nicht haltbar. Politik und Gesetzgeber weigern sich beharrlich, dem dringenden Desiderat nach einem modernen, dem Stand der Medizin angemessenen Fortpflanzungsmedizingesetz Rechnung zu tragen. Kürzlich haben die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften rechtspolitische Vorschläge unter dem Titel „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung“ vorgelegt. Die Wissenschaft hat Gesetzentwürfe erarbeitet (vgl. Gassner et al., Fortpflanzungsmedizingesetz – Augsburg-Münchner-Entwurf, 2013) – keine Reaktion der Politik! Diese begnügt sich damit, die betroffenen Menschen auf kostenträchtige Angebote im Ausland zu verweisen („foreign shopping“; zum „free rider“-Problem der deutschen Gesundheitspolitik s. Lindner, Merkur 852/2020, S. 91 ff.).
2. Ein Grundrecht auf reproduktive Selbstbestimmung
Rechtsfragen betreffend Anfang und Ende des Lebens sind immer und vornehmlich Verfassungsrechtsfragen. So hat das Bundesverfassungsgericht den quälend langen Streit um die Sterbehilfe in Deutschland mit einem wuchtigen Urteil beendet, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben abgeleitet und § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellte, für nichtig erklärt (Urt. vom 26.2.2020 – 2 BvE 2347/15). Wenn aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben ableitbar ist, so müsste man doch – erst recht – gewissermaßen als „Gegenstück“ auch für den Beginn des Lebens ein Grundrecht auf Fortpflanzung oder reproduktive Selbstbestimmung annehmen können, an deren Maßstab dann die rigiden Verbote des ESchG (Verbot und Strafbarkeit des Einzellspende, der post mortem-Befruchtung, der „Leihmutterschaft“, des single-embryo-Transfer etc.) auf ihre Grundrechtskonformität überprüfbar wären. Blickt man in die medizin- und verfassungsrechtliche Literatur, wird ein solches Grundrecht tatsächlich weitgehend anerkannt, sei aus Art. 6 GG, sei es aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Das BVerfG hatte bislang leider und erstaunlicherweise noch keine Gelegenheit, dazu grundsätzlich Stellung zu nehmen.
3. Verstoß der künstlichen Fortpflanzung gegen die Menschenwürde?
Alle Versuche einer grundrechtlichen Fundierung der Fortpflanzung und die damit verbundene Hoffnung auf eine (zumindest vorsichtige) Liberalisierung des festbetonierten Embryonenschutzgesetzes sind indes Schall und Rauch, wenn man der Auffassung ist, ein entsprechendes Recht verstoße gegen die Menschenwürde. Solche Fundamentalkritik wurde und wird insbesondere von Kirchen vorgebracht. Nun hat ein derart rigide Haltung Unterstützung aus der deutschen Staatsrechtslehre erhalten. Ute Sacksofsky hat soeben eine grundsätzliche Kritik an einem Recht auf Fortpflanzung vorgelegt („Über ein Recht auf Fortpflanzung“, in: merkur Nr. 859/2020, S. 32 ff.). Nicht nur gebe es kein Grundrecht auf Fortpflanzung, ein solches könne vielmehr vor dem Hintergrund der Menschenwürde keinen Bestand haben. Denn ein solches Recht impliziere eine „Instrumentalisierung einer anderen Person“, nämlich des aus einer künstlichen Befruchtung hervorgegangenen Kindes. Die Eltern würden zu ihrer eigenen Selbstentfaltung über eine andere Person, nämlich das spätere Kind, verfügen. In diesen Formulierungen klingt nicht nur die Dürig’sche Objektformel an, der Bezug zur Menschenwürde wird vielmehr ausdrücklich hergestellt: „ … dienen die Kinder der Persönlichkeitsentwicklung der Eltern – eine Instrumentalisierung einer anderen Person, die mit unserem Begriff der Menschenwürde nicht vereinbar ist“ (Sacksofsky, aaO, S. 35).
Dieses Argument ist schon deswegen fragwürdig, weil es das Kind, das durch die künstliche Fortpflanzung geboren wird und dessen Menschenwürde durch die Instrumentalisierung zur Selbstverwirklichung der Eltern angeblich verletzt sein soll, ohne die künstliche Befruchtung gar nicht gäbe. Die Alternative heißt also: entweder Verletzung der Menschenwürde oder Nichtexistenz. Und müsste man nicht jede Form der Fortpflanzung, also auch die auf natürlichem Wege, für problematisch erachten. Auch hier ist ja häufig ein Kinderwunsch vorhanden, zu deren Erfüllung das Kind dann „instrumentalisiert“ wird. Zu Ende gedacht würde das bedeuten: Nur im Falle einer ungewollten oder zumindest unbeabsichtigten Schwangerschaft wäre die Menschenwürde des Kindes nicht tangiert, da nur in einem solchen Fall keine Instrumentalisierung vorläge. Ein absurdes Ergebnis!
4. Verbot der Fortpflanzung zum Schutz der Menschenwürde des Kindes?
Verneint man mit der Berufung auf die Menschenwürde des Kindes ein Recht der Eltern auf künstliche Fortpflanzung oder gar auf Fortpflanzung überhaupt, so könnte der Staat konsequenterweise den Eltern auch die tatsächliche Inanspruchnahme eines solchen (nicht existenten) Rechts verbieten. Denn nicht nur ein Recht auf (künstliche) Fortpflanzung verletzte ja die Menschenwürde des Kindes, sondern natürlich auch die Realisierung des Kinderwunsches durch Inanspruchnahme eines solchen Rechts. Der Staat könnte per Gesetz die (künstliche) Fortpflanzung einschränken oder gar untersagen, ohne dass die Betroffenen dagegen eine grundrechtliche Position erfolgreich entgegenhalten könnten.
Selbst wenn man insoweit die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) aktivieren würde, was Sacksofsky immerhin annimmt, aber ihrer eigenen Instrumentalisierungsthese widerspricht (aaO, S. 33), ließe sich deren Beschränkung leicht mit der Pflicht des Staates zum Schutz der Menschenwürde des instrumentalisierten Kindes rechtfertigen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG). So ließe sich unter Berufung auf die Menschenwürde des Kindes sogar eine rigide staatliche Bevölkerungspolitik betreiben und verfassungsrechtlich rechtfertigen.
Nimmt man den Gedanken der Menschenwürdeverletzung durch (künstliche) Fortpflanzung ernst, liegt auch die Annahme einer Pflicht des Staates zum Verbot der medizinisch assistierten Reproduktion nahe. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Staat, die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch, sie zu schützen. Und wie anders als durch ein Verbot sollte man die (potenziellen) Kinder vor einer Instrumentalisierung durch ihre Eltern schützen? Alles freilich um den Preis ihrer Existenz. Was würden die Millionen von Menschen, die ihr Leben der Fortpflanzungsmedizin und ihren Eltern verdanken, die sich für diesen Weg entschieden haben, davon halten?