1. August 2017

Fabian Steinhauer

Neues vom Glossator 7: Über Ähnlichkeiten

1.

Richter sind für ihre ästhetischen Akte, also für diejenigen Handlungen, die explizit auf Wahrnehmbarkeit zielen, nicht bekannt. Man kennt sie vor allem wegen des juristischen Akts des Urteilens. Auch wenn Kant mit der „Kritik der Urteilskraft“ zur ästhetischen Theorie beigetragen hat, gilt das Urteilen in der Regel nicht als ästhetische, sondern als juristische Praxis.  In der anhaltenden Rechtsprechung zu Kopftüchern und anderen Kleidungsstücken verschaltet sich beides, vor allem dann, wenn es um die Bekleidung der Richter selbst geht. Die Auseinandersetzung klafft auf, ausgerechnet um eine Kluft, also eine Kleidung, die einen Abstand um ihr Subjekt einrichtet.

Richtern verkleiden sich. Ich spreche von Verkleidung, weil die Robe – anders als eine Bekleidung – explizit die Funktion der Umhüllung und Verhüllung aufgreift – und sie darin Masken, Kostümen und den in England (in manchen Verfahren) noch üblichen Perücken entsprechen. Die Robe umhüllt nicht nur den Richter, sie macht auch deutlich, dass sie das tut. Sie äußert ihre Äußerlichkeit. Mir ist klar, dass der Begriff der Verkleidung im Deutschen einen für die Amtstracht abwertenden oder despektierlichen Klang hat.  Den möchte ich keinesfalls aufgreifen, ich möchte aber an die Fremdheit dieses Aktes erinnern. Und eben daran, dass bei einer Verkleidung, anders als bei einer Bekleidung, die Fremdheit mitkommuniziert wird. Die Verkleidung trägt etwas Entferntes in die Gegenwart ihrer Präsentation. Sie rückt ab. Im Karneval wird gleich alles verrückt, das ist im Gerichtssaal nicht unbedingt der Fall. Aber die Verkleidung des Richters gehört zu den Mitteln, ihn abzurücken.

Eine Bekleidung umhüllt auch, aber eine Verkleidung verweist noch einmal explizit darauf, dass sie umhüllt. Stoffe, insbesondere schwarz, haben sich insofern als besonders erfolgreich durchgesetzt, auch weil das monochrome Schwarz, ob nun im Suprematismus, am Amtsgericht oder in Afghanistan, als Negation der Sichtbarkeit verstanden wird. Eine Verkleidung ist eine Bekleidung, die eine Invisibilisierung mit ausspricht und/oder einen Wechsel. Damit ist sie eine Abstandnahme. Eine Verkleidung hat auf deutlich Art und Weise etwas Sekundäres oder Artifizielles, mehr noch, als Bekleidung ohnehin hat. Roben und Perücken werden übergestreift und scheinen dabei auch noch zu sagen: „Seht her, ich bin ein Extra“.  Dass die Amtstracht am Bundesverfassungsgericht von einem Kostümschneider des Badischen Staatstheaters entworfen wurde, das ist nicht nur eine bekannte Geschichte, sie gehört auch zu den erwartbaren Hintergründen dieses Kostüms.

Die Verkleidung soll nicht allein den Status des Richters markieren und ihn nicht – wie manchmal behauptet – vor Wiedererkennbarkeit schützen. Diese Verkleidung soll die Richter in ihr Amt und ihre Rolle versetzen. Die Verkleidungen sind Medien einer Haltung und zwar einer Haltung, die Individuum und Amtsträger differenziert.  Es kursiert, auch in England, das Argument, die Verkleidung solle den Richter davor schützen, auf der Straße wiedererkennbar zu sein.  Das ist ein Argument, das einfach herumgeistert, ohne jemals tragfähig gewesen zu sein.  Sollte der Richter nicht wiedererkannt werden, müsste er vor allem sein Gesicht verbergen, und das ist nicht der Fall.  Ginge es bei der Perücke um die Anonymität des Richters, wie eben hier und da behauptet wird, wäre es wohl auch sinnvoller, mit Verschlüsselungen als mit Unterschriften zu arbeiten. Weder bei der Perücke noch bei der Robe geht es also um Anonymisierung oder Neutralisierung des Subjektes, es geht um eine ganz spezifische Subjektivierung – nämlich um die Subjektivierung als richtender Amtsträger. Wie die Verkleidung in ein Amt einführt, als leiste sie einen Beitrag zur Investitur dieses Amtes, so sondert sie auch aus. Sie hilft dabei, die Differenz zwischen dem Individuum und dem Subjekt zu operationalisieren. Sie sorgt für einen normativen Effekt. Das Richtersubjekt ist kein natürliches Subjekt,  und es ist alles andere als authentisch. Es ist ein artifiziell oder technisch eingerichtetes Subjekt – und die Verkleidungen gehören zu den Medien, die helfen, die dafür notwendigen Differenzen zu reproduzieren. Wenn in der Verfassung und im Richtergesetz steht, dass der Richter einerseits unabhängig und andererseits nur dem Gesetz unterworfen sei, dann ist das kein Widerspruch, sondern exakter Ausdruck für die Einrichtung dieses Amtes. Die Amtstracht der Richter ist eine Marke, also das Zeichen jener Grenze, die gezogen werden soll, um dieses Amt einzurichten. Die Kluft richtet also nicht nur einen Abstand um ihr Subjekt ein – sie durchzieht auch das richtende Subjekt selbst, das, wie Kantorowicz ausführlich analysiert hat, zwei Körper hat und damit ein verdoppeltes und gespaltenes Subjekt ist.

Verkleidungen haben eine dogmatische Funktion. Eine dogmatische Funktion liegt nicht einfach darin, Aussagen zu sichern oder ihre Negierbarkeit auszuschließen.  Eine dogmatische Funktion soll bestimmte Meinungen nicht nur feststellen, also fest stehen lassen. Sie schirmt Aussagen und Meinungen nicht einfach gegen Widerspruch ab. Sie beschirmt auch Aussagen und Meinungen. Das bedeutet, dass der Begriff des Dogmas sich auf das dasjenige bezieht, das in einem normativen Sinne ‚scheint‘. Dogmatik ist auch eine Technik des Scheins, und der Begriff des Dogmas bezieht auch auf den Bereich „des Decorum, des Schmucks, des Glänzens, des Erscheinens und Rühmens“ (Clemens Pornschlegel). Verkleidungen gehören mit ihrer dogmatischen Funktion insoweit (wie die Präambeln) zu denjenigen Dingen, die vor das Gesetz gestellt werden, damit dieses Gesetz eindringlich wird. Sie operationalisieren Differenzen nicht nur im „Leitmedium“ (Luhmann) des Sinns, sondern auch im Feld der Sinnlichkeit – und gerade darin sind diese normativen Medien effektiv.

In einer Welt, die sich selbst als modern und rational begreift, haben es Verkleidungen nicht immer einfach. Auch die Amtstracht der Richter hat es nicht einfach. Selbst in England gab und gibt es eine Bewegung, diese Amtstracht abzuschaffen.  Die Verkleidung gilt hier und da als irrationales Relikt der Vormoderne. Anders als die Talare der universitären Amtsträger hat sie sich über jüngere Bilderstürme der Moderne noch halten können, wenn hier und da auch immer wieder Konflikte auftauchen, etwa wenn Anwälte die Möglichkeiten austesten, ohne Robe auftreten zu können, und dann von Richtern in Roben sanktioniert werden. Sicher ist die Robe des Anwalts etwas anderes als die Robe der Richter, aber die Sanktionen, mit der hier und da auf das Ablegen reagiert wird, legt nahe, dass Richter diese kleinen Widerstände auch als Angriff auf ihr Amt und ihre ästhetische Praxis sehen.

2.

Der Konflikt, der sich jüngst um das Kopftuch von Referendarinnen und Richterinnen entwickelt hat, ist auch ein Konflikt um Ähnlichkeiten. Es ist ein Konflikt um Ähnlichkeiten, die offensichtlich für Erschrecken sorgen. Wenn Kommentare im Netz Indikatoren für eine Aufgeregtheit sind, dann entzündet sich an dieser Frage eine Aufgeregtheit. Die Beiträge auf dem Verfassungsblog wurden schnell und zahlreich kommentiert – mit den bekannten Aufwallungen. Der eine oder andere Kommentator sah sogar den Boden für jede Diskussion entzogen. Einigen Kommentierenden schwindelte. Mir scheint das typisch für Konflikte über Ähnlichkeiten – und zwar über Ähnlichkeiten in einem spezifischen Sinn. Es geht um Ähnlichkeiten, die normativ bestimmt und ambivalent besetzt sind. Man blickt auf etwas, in dem man sich spiegelt, und etwas Anderes blickt zurück.  Das ist ein bisschen wie der Schrecken im Terrarium, wenn man auf Pflanzen starrt und eine Gottesanbeterin zurückblickt. Dieser Ähnlichkeitsschrecken entzündet sich an dem harten Aufeinandertreffen des Einen mit dem Anderen, daran, dass plötzlich Dinge zusammenrücken, die man kraftvoll geschieden hatte, und dass plötzlich Dinge auseinanderfallen, die man kategorial bündelte. Männer und Frauen, Abendland und Morgenland, Moderne und Vormoderne: In dieser Auseinandersetzung geht es unrein zu. Dieser Ähnlichkeitsschrecken entzündet sich an jenen Grenzverletzungen, die Verstößen gegen Tabus gleichen. Aufgeregtheiten, zumal solche, für die Reaktionen im Netz Indikatoren sind, entzünden sich häufig an einem Material der Oberfläche. Aber das allein erklärt nicht die Schärfe, mit der Kommentatoren in Angesichts dieses Konfliktes von Bodenlosigkeit, Rassismus, Infamem sprechen. Diese Schärfe erklärt sich durch den Charakter dieser Ähnlichkeit. Es geht nicht darum, dass hier zwei Dinge dadurch ähnlich sind, dass sie eben miteinander verglichen werden können. Es handelt sich um eine dichte Ähnlichkeit, die vom Äußerlichen ins Strukturelle reicht. Die Verkleidung des Richters und die Verkleidung der Muslima sind ähnlich, weil sie beide aus einer Abschirmung rühren, die auf gleiche Weise dogmatisch besetzt ist. Auch wenn, zumindest in der deutschen Übersetzung des Koran, mit der Bedeckung der Haare die Keuschheit, Sittsamkeit oder Schamhaftigkeit der Frau und mit der Verkleidung des Richters seine Neutralität symbolisiert oder umgesetzt werden soll, gibt es doch eine Entsprechung, und die liegt in der Abschirmung. Wenn man hijab mit Absperrung oder Verhüllung übersetzt, wie das einige vorschlagen, dann tragen Richter auch einen hijab. Ein hijab muss nicht schwarz sein, die Amtstracht des Richters muss das auch nicht sein. Manchmal sind beide schwarz. Zu sagen, man könne hijab und Robe nicht vergleichen, rührt aus einer Normativität, in der beide Kleidungsstücke auseinandergehalten werden müssen – weil es in ihnen etwas gibt, was zusammenfällt.

Nicht allein das richtende Subjekt und nicht allein die gläubige Muslima wird abgeschirmt, die Praxis schirmt ihren Ursprung auch ab. Für die religiöse Praxis ist diese Abschirmung selbstverständlich, die Quellen des Gebotes gelten in einem strengen Sinne als transzendent. Man argumentiert nicht mit Allah, ob er Sure 24 Vers 31 nicht lieber streichen oder in einer neuen Auflage des Koran korrigieren will. Für die juristische Praxis ist diese Abschirmung nicht vertraut, vor allem in der Moderne. Und doch entzieht sich die Praxis der Abschirmung der Moderne. Die Verkleidung der Richter hat nichts Transzendentes, aber es handelt sich um eine Praxis, an der Gründe zu Untergründen werden. Die Robe wird nicht von Funktionalität gesäumt. Die Vormoderne, die in dieser Praxis steckt, ist Teil einer Verstellung, aus der das Dogmatische rührt. Das Reservoir, aus dem alles das entsteht, was die Menschen für transzendent halten, ist so. Das Material der Jenseitigkeit ist textil. Umso sensibler reagiert der eine oder andere Richter nun auf eine Praxis, die der eigenen Praxis ähnelt und doch so ganz anders ist.  Es ist ein Konkurrenzverhältnis.

3.

Muslima sollen Richterinnen werden, aber nicht nur Richterinnen. Die Gesellschaft soll Fremde integrieren, aber nicht nur das (die Vorstellung ist problematisch genug). Man soll vor allem die Fremdheit an ihren eigenen Wurzeln begreifen. Bei einer Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und der Unabhängigkeit der Richter wird man den Konflikt auch als Konflikt zwischen Minderheiten und Mehrheiten, Schwachen und Starken, Eingeschlossenen und Ausgeschlossenen begreifen müssen. Dazu gibt es, auf dem Verfassungsblog von Anna Katharina Mangold, kluge Analysen. Die deutsche Gesellschaft muss darüber hinaus lernen, ihre Vorstellung von Neutralität zu modernisieren oder historisieren. Und sie muss, wenn sie sich für Keuschheit, Scham und Sittlichkeit interessiert, ihre Vorstellung von Keuschheit, Scham und Sittlichkeit modernisieren oder historisieren. Mit welchen Praktiken das gelingt, das bleibt eine Herausforderung. Richter sind selbst nicht nur normative und neutrale Subjekte, sondern auch keusche, schamhafte oder sittliche Subjekte. Sie machen zumindest keine erotischen Avancen. Treten sie nicht ohnehin im Gerichtssaal so auf, wie es Sure 24 Vers 31, Sure 33 Vers 53 und Vers 59 von einer Muslima verlangen? Nicht nur die westliche Gesellschaft blickt, hier und da nervös, auf ähnliche und konkurrierende Praktiken, die an das ‚Nachleben der Antike‘ in der Moderne erinnern. Auch die muslimische Gesellschaft blickt, hier und da nervös, auf ihre Ähnlichkeit mit der westlichen Moderne und darauf, dass in dieser Ähnlichkeit alles ganz anders wird.

 

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