Die Briten haben gewählt. Aber was?
Das britische Wahlsystem hat sein großes und einziges Versprechen, nämlich das es klare Mehrheiten generiert, nicht einlösen können. Damit ist ihm seine Legitimationsgrundlage entzogen. Damit gibt es kein einziges Argument mehr, das man für dieses Wahlsystem noch ins Feld führen könnte.
Ist das Mehrheitswahlrecht damit erledigt? Nicht sicher. Aber möglich. Immerhin.
Das relative Mehrheitswahlrecht der Briten teilt das Land in Wahlkreise ein, und in jedem Wahlkreis gewinnt der Kandidat ein Mandat, der am meisten Stimmen bekommt. Das ist einfach und hat lange gut funktioniert, aber die Schwäche dieses Systems liegt auf der Hand: Viele Parteien treten an, aber nur eine gewinnt das Mandat, selbst wenn nur ein Drittel oder ein Viertel der Wähler ihr die Stimme gegeben hat. Dieses Wahlsystem händigt die ganze Macht einer Partei aus, die nur ein Bruchteil und oftmals nur die Minderheit der Wähler repräsentiert.
Dafür, so der bislang tragende Einwand, bringt es zuverlässig handlungsfähige Regierungen hervor: Es verhindert, dass sich die pluralistische Zersplittertheit der Bevölkerung in das politische Entscheidungsgremium, das Parlament, durchschlägt. Was das Land tut, wird nicht durch faule Kompromisse und intransparente Kuhhändel, sondern durch Abstimmung entschieden, öffentlich und glasklar. Die Regierung kann handeln, ist allein verantwortlich dafür und legitimiert sich entweder durch ihren Erfolg oder sie wird eben abgewählt.
Fiktion und Vertrauen
Das ist nicht mehr so. Keine Partei hat eine absolute Mehrheit der Sitze im Parlament. Die Fiktion, die Unterhauswahl generiere einen ungeteilten Regierungsauftrag für eine bestimmte Partei, hat sich gestern selbst widerlegt.
Dass das Wahlrecht den „Volkswillen“ misst, ist so oder so eine Fiktion, und die funktioniert nur, wenn sie geglaubt wird. Das war im Fall der Briten auch vorher schon immer weniger der Fall. Dass Tony Blair, den nur eine Minderheit der Briten gewählt hat, mit seiner ungeteilten Macht das Land in den Irakkrieg schicken konnte, hat diesem Vertrauen bereits hart zugesetzt. Die Spendenskandale haben das Vertrauen, dass die Abgeordneten das britische Volk vertreten und nicht ihre eigenen Interessen oder die ihrer Geldgeber, zutiefst erschüttert.
Die Tories sind zwar nah genug dran an der absoluten Mehrheit, um es mit einer Minderheitsregierung versuchen können. Das könnte dem Mehrheitswahlrecht zu einem Aufschub verhelfen. Cameron wird Premierminister und hat es dann in der Hand, die nächsten Wahlen zu einem Zeitpunkt seiner Wahl auszurufen und so dafür zu sorgen, dass dann eine schöne, vernünftige absolute Mehrheit hergeht. Dann wäre alles wieder in Ordnung, alles wieder wie früher. Dann wäre das Mehrheitswahlrecht gerettet und alles geht weiter wie gewohnt.
So lief es 1974, als es zum letzten Mal ein „hung parliament“ ohne absolute Mehrheit gab: Damals hat die Labour-Minderheitsregierung unter Harold Wilson nach einem halben Jahr Neuwahlen ausgerufen. Das halbe Jahr hatte er im Wesentlichen damit zugebracht, mit den Liberalen über eine Koalition zu verhandeln. Die Liberalen forderten eine Wahlrechtsreform, Wilson sperrte sich und konnte dann zu einem für Labour günstigen Moment das Parlament auflösen. Damals hat das funktioniert.
Gut möglich, dass Cameron der gleiche Stunt gelingt. Wenn es ihm gelingt, den Liberalen die Schuld dazu zu geben, mit ihrer Forderung nach einer Wahlrechtsreform die Regierungsbildung zu verzögern in diesen Zeiten der Krise, dann könnte das dazu führen, dass die Leute die Vorzüge des Mehrheitswahlrechts wieder zu schätzen lernen. Dann könnten sie zumindest vorläufig wieder Vertrauen in ihr Wahlsystem fassen.
Aufschub, aber keine Rettung
Dagegen spricht, dass es Cameron nicht leicht fallen wird, die Zustimmungsraten der Tories in absehbarer Zeit über die Absolute-Mehrheits-Schwelle zu wuchten, auch wenn er die Macht des Premierministers dazu nutzen kann. Die Regierung wird kein Geld haben, um sich Zustimmung zu kaufen; damit wird der Trend, dass die Zustimmung im Lauf der Wahlperiode eher sinkt als steigt, sich stärker durchsetzen. Zumal die Zeit ohnehin eher gegen ihn spielt: Je länger sich das „hung parliament“ hinzieht, desto öfter wird es vorkommen, dass Cameron für die Mehrheit im Parlament Partner außerhalb seiner Partei braucht. Und um so mehr Anschauungsmaterial werden die Briten haben, dass Demokratie auch ohne absolute Mehrheit funktioniert – und womöglich sogar besser.
Dazu kommen die skandalösen Begleitumstände der gestrigen Wahl: In einigen Wahllokalen gab es offenbar Pannen, die das Maß des in modernen Demokratien Üblichen weit, weit übersteigen. Dass die Polizei hunderte erboster Wähler auseinandertreiben musste, die wegen fehlender Wahlzettel oder zu langer Schlangen vor dem Wahllokalen an der Abgabe ihrer Stimme gehindert wurden – das wird das Vertrauen in das Wahlsystem in jedem Fall weiter massiv beschädigen (auch wenn das Wahlsystem als solches da ausnahmsweise einmal gar nichts oder wenig dafür kann; höchstens, dass Alleinregierungen bei der Organisation der Wahl vielleicht eher zu Schlampereien und Überheblichkeiten neigen oder so etwas).
Unterm Strich halte ich es für wahrscheinlich, dass wenn nicht bei dieser, so doch bei der nächsten Wahl das Totenglöckchen für das Mehrheitswahlrecht klingeln wird.
Update: Charlemagne’s gloomy outlook – lesenswert, wenngleich deprimierend.
Update: Nach einer neuen Umfrage ist auch in Amerika die Unterstützung für das Zweiparteiensystem auf dem Rückmarsch: Mit 31 Prozent sind mehr als je zuvor für ein Dreiparteiensystem. Das ist doch alles kein Zufall.
