25. Juli 2022

Kai Ambos

Nochmals: Cannabis-Entkriminalisierung und Europarecht

Ich habe kürzlich an dieser Stelle argumentiert, dass das Europarecht mit Blick auf die geplante Entkriminalisierung des Cannabiskonsums „die völkerrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen“ nachvollzieht. Dem ist nun widersprochen worden und zwar unter Hinweis auf Art. 71 Abs. 2 SDÜ und den Beitritt der EU zur Wiener Drogenkonvention von 1988. Darauf ist kurz zu replizieren, weil die vorgebrachte Argumentation einerseits europarechtlich zu kurz greift und andererseits in der Sache an der Dominanz der völkerrechtlichen Abkommen nichts ändert.

  1. Der zitierte Art. 71 Abs. 2 SDÜ bezieht sich zunächst nur auf die „unerlaubte Ausfuhr“ von Betäubungsmitteln, um die es aber bei der kontrollierten Abgabe zum Eigenkonsum innerhalb eines nationalen Markts überhaupt nicht geht. Im Übrigen enthält Art. 71 fünf Absätze, und alle diese Absätze, einschließlich Absatz 2, sind im systematischen und teleologischen Gesamtzusammenhang auszulegen.((Bedauerlicherweise existieren keine travaux zum Schengener Recht, vgl. Gless, in Schomburg/Lagodny, 6. Aufl. 2020, III E. Rn. 9.)) Insoweit ist insbesondere von Bedeutung, dass Absatz 1 explizit den Besitz von Betäubungsmitteln „zum Zwecke der Abgabe oder Ausfuhr“ mit Blick auf die „bestehenden Übereinkommen der Vereinten Nationen“ regulieren will, also explizit auf die völkerrechtlichen Vorgaben Bezug nimmt. Absatz 3 regelt die unerlaubte Einfuhr, Absatz 4 die Überwachung von „Örtlichkeiten“ des „Rauschgifthandel(s)“ und Absatz 5 verweist hinsichtlich der – in unserem Zusammenhang besonders wichtigen – „Eindämmung der unerlaubten Nachfrage“ auf den „Verantwortungsbereich der einzelnen Vertragsparteien“.((Darauf habe ich schon hier in Fn. 10 hingewiesen. Hofmann ignoriert leider nicht nur diesen Absatz und reißt Abs. 2 damit aus seinem systematischen Zusammenhang.)) Man kann also festhalten: Erstens ist Art. 71 SDÜ im Lichte der völkerrechtlichen Abkommen auszulegen bzw. will diese nachvollziehen. Zweitens überlässt die Vorschrift die Regulierung des nationalen Markts („Nachfrage“ i.S.v. Abs. 5) den Mitgliedsstaaten („Verantwortungsbereich der einzelnen Vertragsparteien“). Last but not least geht es immer um ein „unerlaubtes“ Handeln (bei Ausfuhr, Einfuhr, Nachfrage), was zum einen auf die völkerrechtlichen Abkommen zurückverweist (was ist unerlaubt in deren Sinne?) und zum anderen eben dazu führt, dass eine (völkerrechtlich) erlaubte Produktion und Abgabe zum Eigenkonsum – wie aus meiner Sicht die hierzulande vorgeschlagene „kontrollierte Abgabe“ – überhaupt nicht unter die Vorschrift fällt.
  2. Was den Beitritt der EU zum Wiener Drogenübereinkommen von 1988 angeht, so ist es zutreffend, dass ein EU-Mitgliedsstaat auch bei seinem Austritt aus diesem Abkommen über die Union (im Sinne erweiterter „Unionstreue“((Vgl. Mögele in Streinz EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Rn. 51, mit Blick auf Art. 216 Abs. 2 AEUV von einer „Ergänzung der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Unionstreue“ sprechend.)).) an dieses Abkommen gebunden bleibt.((Vgl. Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, EUV-AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 216 AEUV, Rn. 7.)) Doch kann der Austritt aus einem völkerrechtlichen Abkommen mit nachfolgendem Wiedereintritt unter Vorbehalt – gerade bei einem völkerrechtsfreundlichen Staat wie der Bundesrepublik – nur ultima ratio sein. Und dieses Vorgehen ist überhaupt nur dann notwendig, wenn das betreffende Abkommen keinen einzelstaatlichen Spielraum – hier zur gesundheitspolitisch motivierten Entkriminalisierung des Cannabiskonsums – lässt. Weil die Drogenkonventionen diesen Spielraum aber über die Verfassungsvorbehalte lassen, sind Ausstiegsszenarien nur ein letztes Mittel, letztlich ein Druckmittel in den Verhandlungen mit den tendenziell prohibitiven Drogenkontrollorgangen, insbesondere dem International Narcotics Control Board.
  3. Es bleibt also dabei, dass das Europarecht nicht über die völkerrechtlichen Vorgaben hinausgeht und deshalb auch zurecht weniger Beachtung findet. Relevanter als das SDÜ ist ohnehin der  Rahmenbeschluss 2004/757/JI, der aber gerade von einer Kriminalisierung der in Art. 2 Abs. 1 genannten Tathandlungen (u.a. Besitz und Kauf) bei Begehung zum Zwecke des ausschließlich „persönlichen Konsums“ absieht (Art. 2 Abs. 2). Anders kann dies auch gar nicht sein, gibt es doch in den EU-Mitgliedstaaten bekanntlich unterschiedliche drogenpolitische Ansätze und ist Deutschland nicht der erste Mitgliedsstaat, der eine Entkriminalisierung des Cannabiskonsums durchführen will. Die EU wird dem also kaum im Weg stehen, die Angst vor einem Vertragsverletzungsverfahren ist unbegründet. Natürlich spricht das nicht dagegen, auch innerhalb der EU auf eine gemeinsame, liberalere Politik hinzuwirken.

Ich danke Prof. Peter Rackow für wichtige Denkanstöße.

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