29. Oktober 2015

Maximilian Steinbeis

Öffentlichkeit hat ein Recht, Gerichtsurteile zu lesen

In dieser Sache bin ich natürlich befangen. Aber der heute veröffentlichte Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Pflicht von Gerichten, ihre Urteile der Presse zur Verfügung zu stellen, verdient auch ohne dies Aufmerksamkeit.

In dem Beschluss ging es um den Fall des ehemaligen thüringischen Innenministers Christian Köckert, der sich 2010 bei einem Windparkentwickler gegen bares Geld als Berater verdingte, während er gleichzeitig als Beigeordneter der Stadt Eisenach Einfluss auf die Ausweisung von Windkraftgebieten besaß – ein Fall von Abgeordnetenbestechung, für den ihn das Landgericht Meiningen zu einer Bewährungsstrafe verurteilte.

Über dieses Strafverfahren gab es natürlich eine rege Presseberichterstattung in Thüringen. Ein Zeitungsverlag beantragte, eine anonymisierte Fassung der Urteilsgründe ausgehändigt zu bekommen – was der Präsident des LG Meiningen indessen ablehnte, und zwar nach Ansicht des OVG Thüringen zu Recht: Die Presse habe nur einen Anspruch auf behördliche Auskunft, aber in welcher Form diese erteilt wird, falle ins Ermessen der jeweiligen Behörde. Dieses Ermessen müsse das Gericht keineswegs so ausüben, dass es der Presse die schriftlichen Urteilsgründe zur Verfügung stellt. Sie seien vielmehr zu absoluter Neutralität verpflichtet, und das könne bedeuten, dass bei nicht rechtskräftigen Urteilen die Herausgabe verweigert werden könne, auf dass nicht nach einer Zurückverweisung oder in parallelen Verfahren Zeugen durch die Presseberichte beeinflusst werden.

Mit dieser Position ist das OVG Thüringen in Karlsruhe komplett durchgefallen. Vor allem in Strafverfahren, wo es um die staatliche Sanktionsgewalt geht, übe die Presse eine Kontrollfunktion aus, die einen umfassenden Informationsanspruch rechtfertige. Es gebe sehr wohl grundsätzlich einen Anspruch der Medienvertreter, Gerichtsurteile in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt zu bekommen, so die 3. Kammer des Ersten Senats. Sie verweist dabei auf den Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1997, in der das BVerwG der Praxis, die Veröffentlichung den Richtern als „Privatleute“ zu überlassen und so Veröffentlichungsmonopole bestimmter Verlage zu fördern, ein Ende bereitet hatte. Die Medien, so die Kammer, hätten bei der Veröffentlichung natürlich bestimmte Sorgfaltspflichten zu beachten, aber das falle in ihre eigene Verantwortung, nicht in die der Gerichte.

Ob es Belange geben kann, die einem solchen Anspruch gegebenenfalls entgegengehalten werden können, ließ die Kammer offen. Die pauschale Sorge, dass irgendwelche Zeugen später mal beeinflusst werden können, zähle jedenfalls nicht dazu, Nach einer sechstägige Hauptverhandlung und einer ausführlichen Pressemitteilung zum Urteil sei nicht ersichtlich, warum ausgerechnet die schriftlichen Urteilsgründe unbedingt geheim bleiben müssten.

Wieso weder der Landgerichtspräsident noch das OVG auf diese Idee nicht selbst gekommen sind, darüber kann ich hier natürlich nur spekulieren. Unterstellt, die Urteilsgründe enthalten nichts, was der Justiz peinlich sein müsste – als halbwegs plausible Erklärung fällt mir nur das generelle Bedürfnis der Justiz ein, die Kontrolle über die Presseberichterstattung nicht aus der Hand zu geben: Schreiberlinge, berichtet gefälligst auf Basis unserer Pressemitteilung, da haben wir euch schon vorformuliert, was wir an dieser Entscheidung berichtenswert finden. Die Urteilsgründe aber überlasst denen, die etwas davon verstehen, nämlich den Juristen.

Ich finde es sehr löblich von den Thüringer Journalistenkollegen, sich nicht mit der Pressemitteilung abspeisen zu lassen und die Urteilsgründe zu verlangen. Ich weiß, dass das viele nicht so machen (Disclaimer: ich berichte immer auf Basis der Urteilsgründe, soweit bereits abgesetzt). Eine vernünftige und selbstbewusste Justiz sollte das eigentlich zu schätzen wissen. Dass es in Thüringen dazu einer Intervention aus Karlsruhe bedurfte – das scheint mir auf jeden Fall etwas zu sein, was der Justiz peinlich sein müsste.

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