13. Januar 2016

Maximilian Steinbeis

Opposition? Gibt’s bei uns nicht.

Für und Wider, Konkurrenz und Kontroverse, Politik als robustes Ringen um wechselnde Mehrheiten und konzeptionelle Alternativen – dass eine gesunde Demokratie so etwas notwendig zum Gedeihen braucht, haben wir alle in der Schule gelernt. Wenn in Ungarn, Polen oder sonstwo daran ein Mangel zu entstehen droht, sind wir völlig zu Recht entsetzt. Ich bin natürlich der Letzte, der daran etwas zu bekritteln hätte. Aber eins frage ich mich schon manchmal: Wie wichtig ist uns das, was wir mit großer Geste von anderen fordern, eigentlich im eigenen Land? Wo sind eigentlich unsere regierungskritischen Medien? Wo ist unsere Opposition, wann haben wir zuletzt von ihr gehört? Machen wir uns eigentlich noch klar, wie vollkommen frei von jederlei politischer Konkurrenz unsere eigene Vierfünftelmehrheits-Regierungschefin ihr Amt versieht? Kommt nicht sogar mittlerweile die wahrnehmbarste „Opposition“ gegen die Kanzlerin aus den eigenen Reihen, in dosierter Form natürlich und ohne wirkliche Machteroberungsambition, auf dass es überhaupt noch etwas gibt, worüber die Zeitungen im Innenpolitikteil schreiben können?

Heute stand das Thema Opposition in Karlsruhe auf der Agenda. Die Erkenntnis des Tages: Opposition gibt es in Deutschland nicht nur faktisch nicht. Sondern auch rechtlich.

Noch mal kurz zur Rekapitulation: Verhandelt wurde vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Organklage der Fraktion DIE LINKE. Die kommt im aktuellen Bundestag bekanntlich gemeinsam mit der Mit-Oppositionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gerade mal auf ein Fünftel der Stimmen, was für die meisten parlamentarischen Minderheitsrechte eigentlich nicht reicht. Die Große Koalition hatte teilweise ein Einsehen und verpflichtete sich in der Geschäftsordnung, der Opposition trotzdem zu ermöglichen, Untersuchungsausschüsse einzusetzen und andere parlamentsorganisatorisch regelbare Rechte auszuüben. Das war den Linken aber nicht genug, zumal ein Minderheitenrecht weiterhin außer Reichweite bleibt: ein möglicherweise verfassungswidriges Gesetz nach Karlsruhe zur Überprüfung zu schicken.

Der Antrag der Linken hat keine Chance, das wurde während der Verhandlung aus den Fragen von der Richter_innenbank ziemlich unmissverständlich deutlich. Sie können froh sein, wenn er nicht schon über die Zulässigkeitsfrage stolpert.

Bundestag v. Bundestag

Das erste Zulässigkeitsproblem ist, dass eine Bundestagsfraktion, wenn sie Organklage erhebt, gleichsam stellvertretend für das Verfassungsorgan Bundestag klagt, der in diesem Fall aber gleichzeitig auch auf der Antragsgegnerseite steht. Bundestag verklagt Bundestag – so etwas gab es zwar gelegentlich schon, beispielsweise beim Lissabon-Verfahren. Aber da ging es darum, den Bundestag zu hindern, Kompetenzen unwiderruflich an Europa abzugeben, ihn also tatsächlich sozusagen vor sich selbst zu schützen.

Wie ist das hier? Welches Recht des Bundestags will die Linke mit ihrem Antrag stellvertretend verteidigen? Hier geriet die Prozessvertretung der Linken bereits heftig ins Rudern. Die hatte Hans-Peter Schneider übernommen, emeritierter Staatsrechtslehrer aus Hannover, der in den 70er Jahren seine Habil über das Thema Opposition im Bundestag geschrieben hatte. Und der hatte heute – das wollen wir zu seiner Schonung mal vermuten – einen schlechten Tag. Wieder und wieder versuchte er den Richter_innen schmackhaft zu machen, dass wenn schon kein Recht des Bundestags, dann doch immerhin eine Pflicht desselben gegenüber der Opposition in Frage stehe. Aus diesem Non Sequitur musste ihm schließlich der Senatsvorsitzende Andreas Voßkuhle hinaushelfen, der zartfühlend als Denkmöglichkeit anbot, die Prozessstandschaft mit dem Schutz des objektiven Interesses des Bundestags an einem politischen Prozess zu begründen, in dem Minderheiten als Opposition aktiv sein können.

Kyrill-Alexander Schwarz, Prozessvertreter des Bundestags und Staatsrechtslehrer aus Würzburg, hielt dem entgegen, dass der Bundestag aus diesem Grund schließlich schon die Geschäftsordnung zu Gunsten der Opposition angepasst und dabei alles getan habe, was er im Bereich des genuinen Parlamentsrechts autonom machen kann. Das Quorum für Normenkontrollanträge stehe aber im Grundgesetz, das zu ändern sei eine ganz andere Sache.

Um zulässig zu sein, müssten die Linken aber nicht nur die Prozessstandschaft begründen, sondern auch ein Rechtsschutzbedürfnis nachweisen können. Kann man so abstrakt klagen, wenn es noch gar keinen Normenkontrollantrag oder sonstiges Minderheitsrecht gab, von dem die Linken gerne Gebrauch gemacht hätten, aber nicht konnten? Jawohl, so Schneider: schon die bloße Existenz der Minderheitenrechte verändere die politische Lage. Wenn die Mehrheit fürchten müsse, in Karlsruhe zu landen, höre sie verfassungsrechtlichen Argumenten der Opposition ganz anders zu. Im Übrigen, ergänzte sein Mandant und Ex-Vorsitzender der Linksfraktion Gregor Gysi, sei ein Normenkontrollantrag ohne nötiges Quorum doch erst recht unzulässig. In Karlsruhe aufzutauchen und zu sagen, wir sind zwar zu wenig, hoffen aber, die Rechtsgrundlage für das Quorum inzident kippen zu können, darüber könne man zwar nachdenken, aber das sei dann selbst ihm doch „eine Idee zu frech“ erschienen.

Vom Minderheitenschutz zum Oppositionsschutz

Selbst wenn es der Linksfraktion und ihrem Prozessvertreter doch gelungen sein sollte, das Gericht von der Zulässigkeit ihres Antrags zu überzeugen – dass er begründet sein könnte, scheint auf der Richter_innenbank kaum jemand zu glauben. Die zentrale Frage sei, so Voßkuhle, „inwiefern uns die Verfassung zwingt, umzudenken vom Minderheitenschutz zum Oppositionsschutz“. Oder mit anderen Worten: Gibt es im normativen verfassungsrechtlichen Sinn so etwas wie Opposition überhaupt? Ist dem Grundgesetz ein fruchtbares Gegenüber von Regierung und Opposition wichtig, oder geht es ihm nur darum, die Tyrannei der Mehrheit einzudämmen?

Schneider versuchte zunächst, das Gericht sozusagen bei seiner Ehre zu packen. Die Gegenüberstellung von Regierungsmehrheit und Opposition habe in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer mehr an Bedeutung gewonnen. „Wenn man die Wangen aufbläst, muss man irgendwann auch pfeifen.“ Den Mienen der Richter_innen war nicht anzumerken, wie das bei ihnen ankam, als Backenaufbläser bezeichnet zu werden, wohl aber ihren Fragen: Sie könne sich allenfalls Rechte für Oppositionsfraktionen vorstellen, sagte Richterin Doris König, aber ob die Opposition als Block dafür in Frage komme, scheine ihr zweifelhaft, zumal wenn andere Parteien im Bundestag säßen, mit denen man sich so leicht nicht einig werde (sie dachte vermutlich an die AfD). Und Voßkuhle: Opposition habe man bisher nicht normativ, sondern als Sammelbegriff verstanden, um zu beschreiben, was Minderheiten tun, wenn sie ihre Rechte gegenüber der Mehrheit im Parlament ausüben.

Die Richter Peter M. Huber und Herbert Landau erinnerten daran, dass im Grundgesetz von Opposition überhaupt nicht und von Fraktionen nur am Rande die Rede sei – ganz im Gegensatz zum einzelnen Abgeordneten, der als Repräsentant des deutschen Volks nur seinem Gewissen unterworfen sein soll und in Wahrheit immer mehr durch Fraktionszwang mediatisiert und entmündigt werde.

Überhaupt: Das Westminster-Modell, politische Konflikte in der Konfrontation von Regierungsmehrheit und loyaler Opposition zu kanalisieren und zu zähmen, hatte jedenfalls als Modell der Grundgesetzauslegung im Saal außer Schneider wenig Fürsprecher. Das galt vor allem auch für die anwesenden Bundestagsabgeordneten der Regierungsfraktionen. Der einzelne Abgeordnete müsse gestärkt werden, so Vertreter von CDU, CSU und SPD unisono. Besonders ins Zeug warf sich der CSU-Abgeordnete Hans-Peter Uhl: „Gerade jetzt in diesen Wochen und Monaten“ sei das nötig, wo die Abgeordneten „überschüttet werden mit Mails aus der Bevölkerung“, die wissen wollten, nicht was die Fraktionen, sondern was ihr Wahlkreisabgeordneter tue, „um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, gegen die Rechtswidrigkeit“. Welche Rechtswidrigkeit er meinte, musste er nicht ausführen, das war auch so jedem klar.

Damit war der CSU-Mann aber noch nicht fertig. Fraktionen seien Kollektive, und ihre Führer seien Menschen, und „der Mensch per se ist für lang anhaltenden Machtgebrauch nicht geschaffen“. Sagt ein Mann, der (noch) Angela Merkel stützt! Das war der oppositionellste Moment des ganzen Tages. Das Gelächter war groß, und Voßkuhle merkte trocken an, darauf werde man „bei Gelegenheit noch zurückkommen“.

Normenkontrolle als politisches Kampfmittel

Endgültig entwich die Luft aus dem Linken-Antrag aber, als es um die Frage ging, welche essentiellen Minderheitenrechte ihnen überhaupt vorenthalten würden. Schließlich kann die Opposition im 18. Deutschen Bundestag ja so gut wie alles, was die im 17. konnte – ausgenommen ein abstraktes Normenkontrollverfahren anstrengen.

Ist das so essentiell? Könne er nicht erkennen, meinte Voßkuhle. Verfassungswidrige Gesetze könnten schließlich auch per Organklage oder per Verfassungsbeschwerde überprüft und gekippt werden. Die „Wahrnehmung, dass das Wohl und Wehe der Oppositionsarbeit an diesem Recht hängt“, erscheine ihm „nicht ganz so faktengesättigt“. Schließlich sei auch bisher nur ein Fünftel der Normenkontrollanträge aus dem  Bundestag erhoben worden, der Rest von Bundesregierung und Landesregierungen.

Sehr deutlich wurde aber auch, dass das Gericht überhaupt keine Lust verspürt, sich selbst zum Instrument der Opposition im Kampf gegen die Mehrheitspolitik zu machen. Wenn man die Quoren für Normenkontrollanträge senkt, dann rüttle man „am Gefüge zwischen Parlament und diesem Gericht“, mahnte Richter Landau. Wenn jede Miniopposition Gesetze nach Karlsruhe zerren kann, die sie im politischen Meinungskampf nicht verhindern konnte, dann bringe dies das ohnehin schon viel zu sehr as Ersatzgesetzgeber verschriene Gericht in eine noch viel heiklere Situation. Die Normenkontrolle könnte mit einem abgesenkten Quorum zu einem politischen Kampfinstrument werden, warnte Richter Ulrich Maidowski, mit dem „jeder Paragraph im Flüchtlingsrecht“ unter Verfassungswidrigkeitsverdacht gestellt werden kann.

Vor allem aber dürfte dem Antrag zum Verhängnis werden, dass das Quorum von einem Viertel der Abgeordneten für das Normenkontrollverfahren nun einmal im Grundgesetz steht. „Wie setzen wir uns über einen klaren Verfassungswortlaut hinweg?“, wollte Voßkuhle von Schneider wissen, und dessen Antwort, das Gericht sei doch auch sonst nicht um kreative Verfassungsfortbildungsideen verlegen, verfing offenkundig nicht so recht. Ihm sei keine Entscheidung bewusst, wo sich das Gericht über einen klaren Wortlaut des Grundgesetzes einfach hinweggesetzt habe, sagte Voßkuhle kühl. „Ein Viertel ist ein Viertel“.

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