Die Pandemie ist dem Körper ein bedrohliches Phänomen. Dies gilt nicht nur für unsere Körper, die mit Ansteckung und Krankheit bedroht sind. Es gilt auch für die Körperlichkeit der Demokratie, den physischen Aspekt demokratischer Prozesse. Denn Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote, Telefonkonferenzen und Statements aus dem home office sorgen für eine Bilderlosigkeit von Politik, die zum demokratietheoretischen Problem werden könnte.
Die Visualität der Demokratie
Um zu beleuchten, warum dies so ist, muss man sich zunächst „wider den visuellen Agnostizismus der Demokratie“ (Günter Frankenberg) wenden. Bildliche Darstellbarkeit ist ein Erfordernis jeder Herrschaftsform; auch der Demokratie, die aufgrund ihrer Betonung institutionalisierter Formen und Prozesse mitunter im Ruf steht, visuell anämisch zu sein. Einer genaueren Betrachtung hält diese Behauptung freilich nicht stand, wie Philip Manow in seiner Studie Im Schatten des Königs ausführlich dargelegt hat. An Beispielen für seine überzeugende These, dass auch die Demokratie allen Vertretungssymboliken zum Trotz auf die physische Person zur Identitätsrepräsentation angewiesen bliebe, mangelt es nicht: Emmanuel Macron und Donald Trump duellierten sich kurz nach ihren Wahlsiegen im Händeschütteln – stilisiert wurde dies zur endgültigen Neuentfachung des Machtkampfs von Multi- und Unilateralismus. Die Vorwahlen in den USA sind geprägt von unzähligen Auftritten der Kandidierenden in den früh wählenden Staaten – fehlende physische Präsenz wird hier schnell zum politischen Problem. Besonders augenfällig wurde der Stellenwert des Körpers in der Demokratie im vergangenen Sommer: Ein Zittern der Bundeskanzlerin bei einigen öffentlichen Terminen bestimmte über Tage die Nachrichten. Dabei wurde eben nicht nur in mitunter anmaßendem Ton über die Gesundheit von Angela Merkel diskutiert, sondern auch die Frage nach dem Signal gestellt, das von einer bei Staatsempfängen sitzenden Kanzlerin ausginge.
Auch in der Demokratie ist Repräsentation also auf den Körper angewiesen: Sie äußert sich visuell, zeigt sich im Auftreten des Staatsoberhaupts oder der Wahlkämpferin in einem Moment, der mit zeremonieller oder integrierender Bedeutung aufgeladen ist. In der Pandemie sind nun die Einsatzmöglichkeiten des Körpers im politischen Kontext stark eingeschränkt. Natürlich besitzt die Bekämpfung des Virus momentan die höchste Priorität, persönliche Konfrontationen etwa sind kaum angebracht, die Notwendigkeit, vereint zu agieren, wird betont. Aber auch politische Einigkeit lässt sich visuell besser transportieren als nur durch Statements und Hashtags.
Zudem sind nicht alle anderen Themen von der politischen Tagesordnung verschwunden. Der Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten etwa läuft weiter. Der amtierende Präsident hat in der Krise den Vorteil medialer Omnipräsenz, auch aufgrund täglicher Briefings aus dem Presseraum des Weißen Hauses oder vor Sanitätsschiffen. Für seine potentiellen Herausforderer wird das zum Problem: Joe Biden, aussichtsreichster Anwärter auf das Ticket der Demokraten, musste sich fragen lassen, wo er abbleibt und gab zu, gegenwärtig Probleme mit seiner Sichtbarkeit zu haben. Denn Bildern, die entschlossenes präsidiales Handeln (auch unabhängig davon, wie bizarr die Auftritte sein mögen) in der Not und damit auch die Gesundheit und Vitalität des Staatsoberhaupts versichern, ist mit einsamen Monologen aus dem häuslichen Arbeitszimmer schwer beizukommen.
Doch nicht nur in der Interaktion von Politiker*innen untereinander oder mit Bürger*innen wird Demokratie visuell. In seinen Untersuchungen zur Ikonographie des Staates weist Horst Bredekamp auf die Bedeutung der Reichstagskuppel hin: Im Kaiserreich ursprünglich so etwas wie die architektonische Version des Leviathan-Hauptes wird sie in der Interpretation von Norman Foster durchsichtig und begehbar – die zu Bürger*innen gewordenen Untertanen steigen in das Haupt und blicken von dort auf die sie repräsentierenden Abgeordneten hinunter. Die Schließung des Reichstags für den Publikumsverkehr hebt diese Symbolik nun bis auf weiteres auf.
Die Wirkung der Bilder hat natürlich Grenzen und sollte nicht überschätzt werden. Die Komplexität von Politik geht über die visuelle Analogie hinaus. Und doch werden die Folgen der Pandemie für den Bundestag nach und nach offenbar: Nicht nur architektonisch-physisch, auch funktional verändert sich etwas, wie man an diskussionsarmen Fraktionssitzungen mit veränderten Abstimmungsregeln, der Verabschiedung von Gesetzespaketen in kürzester Zeit und der inhaltlich damit einhergehenden „parlamentarischen Selbstentmächtigung“ (Christoph Möllers) erkennen kann. Dies spiegelt sich eben schon jetzt auch visuell im ausgedünnten Plenum und leeren Zuschauerrängen, was ein weiterer Grund gegen ein krisenbedingtes Notparlament im noch kleineren Kreis sein könnte.
Demokratie und Raum
Demokratische Prozesse haben auch ganz greifbare räumliche Aspekte. In den Vereinigten Staaten etwa stehen noch fast dreißig Vorwahlen aus – drei davon als caucus, also in einer Form, die die Bestimmung des Wahlsiegers durch physische Anwesenheit und Zusammenballung der Anhänger an einem (meist nicht sehr weitläufigen) Ort vorsieht. Die Pandemie wird das kaum zulassen, die caucuses sind ohnehin eine umstrittene Form – gleichwohl kann man den Verlust des Zusammenkommens der Wähler*innen, das ja ganz sichtbar macht, wer da gerade den Präsidentschaftskandidaten auswählt, beklagen.
Noch allgemeiner, losgelöst vom unmittelbaren Zusammenhang demokratischer Verfahren, mag man sich fragen, welche Folgen die weitgehende Schließung des öffentlichen Raumes als eine Ausschaltung physischer Interaktion über den engen Familienkreis und die Supermarktkasse hinaus hat. Neben juristischen Aspekten, etwa der freiheitsrechtlichen Dimension oder dem Abwägen zwischen Ausgangssperre und Kontaktverbot, kann man diese Frage auch aus der Perspektive anderer Disziplinen stellen. Zu denken wäre etwa an die Literatur über das Flanieren in der Stadt. Aber auch die Raumsoziologie vermag dafür zu sensibilisieren, welche Bedeutungsdimensionen der (öffentliche) Raum hat – für den Einzelnen und in soziologischen Kontexten. Sie interessiert sich für „die gesellschaftliche Strukturierung durch räumliche Anordnungsprinzipien sowie deren Konstitution im Alltag“ (Martina Löw). Was passiert also, wenn gerade jene Konstitution im Alltag für einen nicht unerheblichen Zeitraum nahezu wegfällt? Es wäre zum Beispiel zu fragen, welche Wirkung die Bewegung in einem als sozial und mental konstruiert verstandenen Raum auf unsere Bewertung der Gegenwart und damit auch auf die Meinungsbildung zu in der Krise getroffenen Maßnahmen hat, welchen Einfluss die Wahrnehmung der Stimmung auf der morgendlichen U-Bahn-Fahrt, welche Folgen die zufällige Begegnung – und welche Effekte deren Ausbleiben.
Die Zukunft des Körpers
Klar ist aber auch, dass wir auf die leibhaftige Begegnung nicht mehr angewiesen sind. Passenderweise bedient nunmehr fast ausschließlich die mit dem Viralen als Phänomen wohlvertraute Sphäre der digitalen Medien die Funktionen, die in nicht-pandemischen Zeiten auch der physische Raum übernimmt. So spendet das Video eines gemeinsam singenden lombardischen Hinterhofes Millionen Menschen Trost; soziale Initiativen, Kulturveranstaltungen, politische Kommunikation, all das verlagert sich endgültig ins Netz. Nach Lobliedern auf das Digitale musste man dann nach Ausbruch der Pandemie auch nicht lange suchen. Überraschend kommt diese Entwicklung selbstverständlich nicht; wenn überhaupt, ist sie eine Beschleunigung eines seit langem bekannten Phänomens.
Die Frage aber nach der Zukunft des physischen Körpers in der demokratischen Ikonographie stellt sich im Angesicht der Pandemie doch: Wie wird es ihm ergehen? Spannend wird sein, ob sich in der Krise nun Repräsentationssymboliken entwickeln, die genuin digital sind und nicht den physischen öffentlichen Raum als Bezugspunkt benötigen. Ähnliches gilt für Formen digitaler Deliberation. Dass sie das politische Potential obsolet machen, das physischer Körper und Raum im Zusammenspiel entfalten, erscheint zweifelhaft. Hände werden wieder geschüttelt, die Reichstagskuppel wieder erklommen werden.
Vor der negativen Folie ihrer nahezu umfassenden Ausklammerung könnte der Wert der nicht-digitalen Öffentlichkeit deutlich werden. Das Grundgesetz jedenfalls lässt sich als Ausdruck der Vorstellung verstehen, dass sich Demokratie darin äußert, dass und wie sich Bürger*innen zueinander verhalten. Das zeigt sich natürlich besonders in den Grundrechten, von denen viele ohne öffentlichen Raum leere Formeln bleiben. Vieles spricht dafür, dass der demokratische Körper die Pandemie überstehen wird.