26. Oktober 2014

Tatjana Hörnle

Plädoyer für eine sachlichere Debatte um den Vergewaltigungstatbestand

Ist das deutsche Sexualstrafrecht noch zeitgemäß? Darüber wird in der Rechtspolitik nachgedacht, erste Gesetzentwürfe sind in Beratung. Ein Teil dieser Debatte gilt den Normen gegen den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen und Kinderpornographie (s. dazu BT-Drs. 18/2601). Ein anderer Diskussionspunkt, auf den ich hier eingehen möchte, betrifft eine Vorschrift von zentraler Bedeutung: sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB). Aktueller Anknüpfungspunkt für Überlegungen, ob insoweit Änderungen erforderlich sind, ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gehalt aus dem Jahr 2011 (Istanbul-Konvention). Art. 36 der Istanbul-Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, alle nicht einverständlichen sexuellen Handlungen mit einer anderen Person unter Strafe zu stellen.

Eine konsequente Ausrichtung des Sexualstrafrechts am Topos „fehlendes Einverständnis der anderen Person“ mag auf den ersten Blick nicht sonderlich revolutionär erscheinen, sondern angemessen für das deutsche Strafgesetzbuch, das den einschlägigen Abschnitt mit „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ überschreibt. Tatsächlich ruft ein solcher Vorschlag aber teilweise erbitterten Protest hervor. In der ZEIT vom 9. Oktober 2014 schreibt Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, dass nur eine „manisch aufs Sexuelle fixierte Gesellschaft, die sich mit einer ins Absurde übersteigerten Moral der ‚Reinheit‘ zu exkulpieren versucht“ auf solche Ideen kommen könne, oder aber „Langbärtige und sonstige Fanatiker“. Eine mit derartiger Polemik einhergehende Abwehrhaltung wirft die Frage auf, was ihre Ursachen sind. Als Erklärung bietet sich zum einen die tendenziell konservative Haltung von Juristen in der Gerichtspraxis an, die dazu neigen, den vertraut gewordenen Status Quo beibehalten zu wollen. Zum anderen spielt ein Mythos eine Rolle, der unter Strafrechtswissenschaftlern weit verbreitet ist: die Vorstellung, dass die Reformen des Sexualstrafrechts in den sechziger und siebziger Jahren Vollendung einer liberalen Kriminalpolitik waren und dass jede Ausdehnung von Strafbarkeit über den damaligen Stand hinaus ein illiberaler Rückschritt sei. Damit wird allerdings ein verzerrtes Bild gezeichnet. Die damaligen Reformen haben nur in Ansätzen das Konzept „Schutz sexueller Selbstbestimmung“ berücksichtigt. Beim Tatbestand der Vergewaltigung wurde eine bis ins Mittelalter zurück verfolgbare Grundstruktur beibehalten. Art. 36 Istanbul-Konvention orientiert sich dagegen an modernen, konsequent auf das Kriterium „Einverständnis“ zugeschnittenen Gesetzen, etwa dem englischen Sexual Offences Act von 2003.

Zur Untermauerung seiner Kritik führt Fischer neben vager Polemik drei Argumente an. Zunächst bestreitet er, dass es Schutzlücken gebe; außerdem sei die Strafe zu hoch, wenn „bloßes ‚Grabschen‘ in Büro oder Straßenbahn“ mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft werde; und schließlich wird der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz bemüht. Das erste Argument ist einfach zu widerlegen: natürlich gibt es Schutzlücken. Nach geltendem Recht ist ein sexueller Übergriff nur dann strafbar, wenn zuvor der Wille des Opfers durch die Anwendung von Gewalt, durch die Bedrohung mit Gewalt oder in einer objektiv schutzlosen Lage durch Furcht vor Gewalt gebrochen wurde. Es gibt aber eine Reihe von weiteren Sachverhalten, in denen Sexualkontakt nicht konsentiert war. Hierzu gehören erstens solche, in denen das Opfer deshalb nicht eingeschüchtert werden musste, weil der Täter von vornherein auf Schnelligkeit, Überraschung und Überrumpelung setzte (z.B. im Gedrängel oder an abgelenkten Personen die sexuelle Handlung vornahm). Zweitens geht das Gesetz für die Fälle, in denen dem sexuellen Übergriff eine Interaktion vorausging, von empirisch unzutreffenden Vorstellungen über das Verhalten von Menschen aus, nämlich vom Ideal des geistesgegenwärtigen und couragierten Verteidigens der eigenen Interessen. Es ist allerdings ebenso häufig wie verständlich, dass Überforderung (bedingt durch Persönlichkeit, Stress oder andere situative Faktoren) dazu führen kann, dass die Reaktion suboptimal ausfällt. Ein sexueller Übergriff ist nach deutschem Recht aber nicht zu bestrafen, wenn sich die betroffene Person etwa durch Drohungen unterhalb der Schwelle „körperliche Gewaltanwendung“ einschüchtern ließ oder wenn sie zwar „nein“ sagte, sich aber im Übrigen passiv verhielt und eine Möglichkeit zur Flucht oder Alarmierung Dritter verkannte.

An der Strafwürdigkeit von Tätern, die bei Wissen um das fehlende Einverständnis solche Situationen für sexuelle Übergriffe ausnutzen, kann es eigentlich keine ernsthaften Zweifel geben. Fischers Warnung vor der Strafhöhe ist kein Einwand, der bei einer Neufassung der Verbotsnorm durchschlägt. Die Strafrahmen müssten natürlich gestaffelt werden, und die derzeitige hohe Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe wäre für Fälle zu reservieren, in denen zusätzlich zum Ignorieren des fehlenden Einverständnisses auch noch durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt die Entschlussfreiheit angegriffen wurde. Daraus folgt aber nicht, dass „einfache“ sexuelle Übergriffe straffrei bleiben müssten, sondern nur, dass der Gesetzgeber sie ggf. als Vergehen und nicht als Verbrechen erfassen sollte. Zu vermeiden sind sowohl Über- als auch Untertreibungen. Fischers Einordnung als „bloßes Grabschen“ fällt unter Letzteres. Missachtungen des Rechts auf Intimsphäre sind weniger harmlos als manches, was das geltende Strafrecht erfasst. Man vergleiche den überraschenden Griff unter Rock und Unterwäsche durch einen Fremden in der U-Bahn mit der Anrede „blöde Ziege“ (Beleidigung nach § 185 StGB).

Schließlich bleibt das verfassungsrechtliche Argument, dass ein Abstellen auf fehlendes Einverständnis mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) kollidiere. Überzeugend ist auch das nicht. Zuzugeben ist zwar, dass Auslegungsfragen entstünden. Es wäre z.B. klarzustellen, dass es auf Einverständniserklärungen ankommt und ein geheim gebliebener innerer Vorbehalt irrelevant wäre. Auslegungsfragen sind aber mit jedem Tatbestandsmerkmal verbunden, ohne sie wäre die Juristenausbildung ein Kinderspiel. Aus der Tatsache, dass im Rechtsstudium den vielen Abgrenzungs- und Zweifelsfragen zur „Wegnahme“ (dem zentralen Element beim Diebstahl) mehrere Stunden gewidmet werden, hat noch niemand gefolgert, dass deshalb dieser Tatbestand verfassungswidrig sei. Die Botschaft „sexuelle Handlungen ohne Einverständnis der anderen Person sind von Rechts wegen verboten“ dürfte für Bürger und Bürgerinnen sehr viel einfacher und klarer zu verstehen sein als der Inhalt von vielen anderen strafrechtlichen Normen.

Es ist auch zu betonen, dass der konsequentere Schutz von sexueller Selbstbestimmung nicht zur weiteren Erschwerung der bekanntlich nicht immer ganz einfachen Anbahnung sexueller Beziehungen führen muss. Verunsicherung wird allenfalls durch überzogene Kommentare wie demjenigen von Thomas Fischer erreicht, die suggerieren, dass es wie bei den Taliban und anderen von ihm angeführten „Langbärtigen“ um die Verhinderung von Sex und Lustfeindlichkeit gehe. Auch in Situationen, in denen sich ein potentieller Sexualpartner zögerlich und ambivalent oder anfangs sogar klar ablehnend verhält, bleiben Verführen, Überreden und Versuche des Umstimmens erlaubt – nicht nur verbal, sondern auch physisch durch das Herstellen von körperlicher Nähe (den Arm um den anderen legen, die Hand auf das Bein etc.). Dass aber ein Gesetz es verbietet, bei anhaltender, erklärter Ablehnung Geschlechtsverkehr und andere Formen des Sexualkontakts zu vollziehen, ist weder eine unverständliche Grenzziehung noch eine unzumutbare Einschränkung sexueller Selbstverwirklichung.

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