Die Medien waren sich schnell einig: eine Sensation, ein Paukenschlag, ein Wendepunkt. Mein Fazit ist nüchterner. Karlsruhe erkennt die eigenen Grenzen und versucht den EuGH als Verbündeten zu gewinnen. Spektakulär ist dies nur vor dem Hintergrund der teils übersteigerten medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit, die die Verkündungen aus Karlsruhe immer wieder auf sich ziehen. In der Sache handelt es sich um einen normalen Vorgang, den beinahe 2.000 deutsche Gerichte, der Hessische Staatsgerichtshof und zahlreiche andere Verfassungsgerichte zuvor bereits beschritten hatten.
Mit der Vorlage kommt der Zweite Senat in der Wirklichkeit an. Für ihn gilt dasselbe wie für Frau Merkel, die Bundesbank und den Bundestag. Ohne die deutschen Staatsorgane läuft in der Euro-Rettung nichts, aber im Alleingang können sie die Krise nicht lösen. Die Vorlage ist auch insoweit etwas Alltägliches und prinzipiell Gewöhnliches. Es sagt sehr viel über den (Schief-)Stand der rechtspolitischen Debatte in Deutschland, dass eine Selbstverständlichkeit als Sensation wahrgenommen wird.
Ein großer Vorteil ist, dass mit der Anrufung des EuGH endlich diejenigen rechtlichen Bewertungsmaßstäbe ins Zentrum rücken, die Karlsruhe bislang geflissentlich ignorierte: Die Vorgaben der EU-Verträge für die Währungsunion und das EZB-Handeln. Man kann darüber streiten, wie diese auszulegen sind, nicht jedoch, dass die Zentralbank diese beachten muss. Anders als die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes, auf die sich Karlsruhe bisher stützte, enthalten die Artikel 119 bis 135 AEUV mannigfaltige und detaillierte Rechtsmaßstäbe, auf die jede glaubhafte Rechtsprechung angewiesen ist.
Diesen Punkt übersieht auch das lesenswerte Sondervotum von Gertrude Lübbe-Wolff. Es stimmt, dass Karlsruhe sich auf eine Wüstenwanderung begab, zu der es besser nicht aufgebrochen wäre. Aber es hat nun endlich zur Quelle gefunden, die es bislang nicht sehen wollte. Die EZB muss die EU-Verträge beachten und hierüber wacht der EuGH. Dies erkannt zu haben und einzufordern ist der große Verdienst des Gerichts.
Ein Wagnis, das sich lohnt
Alle bisherigen Entscheidungen folgten einem klaren Skript: Der Zweite Senat ließ die Rettungsmaßnahmen passieren und erfand immer neue Auflagen und Kautelen, die in der Sache wenig änderten, jedoch den Eindruck hinterließen, dass Karlsruhe der zentrale Hüter der staatspolitischen Rationalität sei. Dies Modell stand im EZB-Verfahren nicht mehr zur Verfügung, weil das BVerfG aufgrund des Grundgesetzes direkte Vorgaben nur für die deutschen Staatsorgane aussprechen kann, nicht für die EZB.
Wenn stattdessen die Vorgaben der EU-Verträge ins Zentrum rücken, kann Karlsruhe hierüber nicht allein entscheiden – auch nicht über den Umweg des Grundgesetzes, weil es sich vollkommen zu recht verpflichtet hatte, vor einer Ultra-vires-Beschwerde oder Identitätskontrolle eine Vorlage an den EuGH zu richten. Hier musste das BVerfG nunmehr Taten folgen lassen. Alles andere hätte die richterliche Glaubwürdigkeit zerstört. Das konnte der Senat nicht riskieren.
BVerfG: Leere Drohungen?
In den Medien wurde die Entscheidung teils als Abdankung oder Unterwerfung präsentiert. Dogmatisch ist dies falsch. Mehrfach betont das BVerfG seine gefestigte Meinung, dass ihm trotz EuGH-Vorlage die Letztentscheidung obliegt. Bei dem erneut beschworenen »Kooperationsverhältnis« handelt es sich aus Sicht der Karlsruher Richter um ein Dialog unter Ungleichen, weil von Anfang an feststeht, dass das letzte Wort dem BVerfG gebührt. Damit ist nicht gesagt, dass Karlsruhe sein Vetorecht gegen die EZB-Anleihekäufe ausüben wird (hierzu sogleich). Die Option besteht jedoch unverändert fort.
Die Kernaussage des von Andreas Voßkuhle versprochenen Verfassungsgerichtsverbunds dürfte denn auch nicht die Vision eines konfliktfreien Miteinanders sein, wie es in der beinahe romantischen Formel des Lissabon-Urteils von einer Rechtsaufsicht »Hand in Hand« anklang. Stattdessen meint Dialog den sachlichen Streit um die richtige Antwort, der freilich ein Gespräch voraussetzt, das nunmehr endlich in Gang kommt. Dies ist wichtig und macht vor aller Welt deutlich, dass das Grundgesetz und das Europarecht jeweils nur ein Teil des Ganzen und aufeinander angewiesen sind.
Diese Einsicht macht die EuGH-Vorlage dann doch zu einem Akt von historischer Tragweite. Es ging bei den deutschen Urteilen zur Eurorettung und den anschließenden Bundestagsabstimmungen nur am Rande um die richtige Rechtsauslegung. Die von Karlsruhe initiierte juristische Stärkung des Nationalstaats entwickelte eine politische Alltagspraxis, die ihrerseits die nationale Identität stärkte. Die EuGH-Vorlage ist hierzu ein Kontrapunkt. Jeder Bürger erkennt: Karlsruhe weiß nicht auf jede Frage eine Antwort und wird auf die (theoretische) Option einer Letztentscheidung zurückgestutzt.
EuGH: Wider dem Mythos der Rechtsdämmerung
In der Krise hat das Europarecht einen schweren Stand. In der (Fach-)Öffentlichkeit hält sich hartnäckig die Auffassung, dass die EU-Verträge systematisch verletzt würden. Diese Vorstellung nährt auch das BVerfG, wenn es das Anleihekaufprogramm als rechtswidrig (genauer: einer europarechtskonformen Auslegung zugänglich) einstuft – und den EuGH zu einer Positionierung auffordert. Für mache Beobachter steht das Ergebnis in Luxemburg schon fest: Die EU-Richter werden der EZB keine Grenzen setzen.
Ich bin anderer Meinung. Luxemburg weiß, dass sein Verhalten speziell in Deutschland mit Argusaugen beobachtet werden wird und wird daher jede Anstrengung unternehmen, um der Vorverurteilung als lascher EuGH entgegenzutreten. Dies bedeutet freilich nicht, dass Luxemburg die EZB stoppen wird (zumal nicht einmal das BVerfG dies verlangt, wenn es »nur« eine vertragskonforme Handhabung anregt). Stattdessen dürfte Luxemburg dem Karlsruher Vorbild folgen und eine Ja-aber-Entscheidung aussprechen, die das EZB-Anleihekaufprogramm gewissen Vorgaben unterwirft.
Dass die EU-Richter hierzu in der Lage sind, bewiesen sie bereits im Pringle-Urteil zum so genannten Bail-out-Verbot. Während sich in Deutschland kaum jemand die Mühe macht, sich ausführlich mit den Vorgaben der EU-Verträge zu beschäftigen, erklärten das EuGH-Plenum und die deutsche Generalanwältin auf vielen Seiten, warum die von deutschen Juristen so geschätzte Rechtsdogmatik dazu führt, dass Artikel 125 AEUV nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Telos dem ESM nicht entgegensteht. Das Ergebnis war ein »Ja-Aber« aus Luxemburg, die – wie von der Bundesregierung gefordert – Finanzhilfen nur gegen Austeritätsvorgaben erlaubte.
Ein ähnliches Ergebnis könnte der EuGH zum OMT-Programm finden. Zweifel an der Zulässigkeit wird er bei Seite schieben, um sich nicht dem Vorwurf der Fahnenflucht auszusetzen. Stattdessen dürfte er dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung nach Art. 123 AEUV einige (nicht: alle) Vorgaben entnehmen, die das BVerfG einfordert, sodann bei der Bewertung volkswirtschaftlicher Zusammenhänge jedoch eine berechtigte Zurückhaltung üben, weil die Beurteilung von Ausfallrisiken, Zinsaufschlägen und Eingriffen in die Preisbildung am Markt, die das BVerfG umtreiben, sich verlässlichen Rechtsmaßstäben ebenso entzieht wie der Fachexpertise von Richtern.
Mit Spannung wird zu beobachten sein, wie Luxemburg auf den weiteren Einwand einer Kompetenzwidrigkeit reagiert, den das BVerfG unter Verweis auf die Pringle-Entscheidung darlegt. Es ist dies ein schlauer Schachzug, weil Kompetenzfragen zum Kern der richterlichen Aufsichtsfunktion gehören und darüber hinaus gut zur deutschen Ultra-vires-Kontrolle passen. In der Sache enthält das Pringle-Urteil freilich genügend Spielraum, um den Ausgang insoweit als offen einstufen zu müssen.
Fazit
Wie wird die Episode enden? Einmal unterstellt, der EuGH kommt zu einer juristisch ausführlich begründeten Ja-aber-Entscheidung, die dem BVerfG (nur) teilweise folgt, so wird sich Karlsruhe diesem Standpunkt nicht entziehen können, trotz eines gegenüber dem Honeywell-Beschluss wieder verschärften Prüfungsmaßstabs aufgrund einer kombinierten Ultra-vires- und Identitätskontrolle. Es kann für sich in diesem Fall immerhin in Anspruch nehmen, den EuGH zu einem »Ja-Aber« gedrängt zu haben.
Verbleibende Zweifel könnte der Zweite Senat durch innerstaatliche Vorgaben an Bundesbank und Bundesregierung auffangen, die die EZB zwar nicht stoppen könnten, das deutsche Gericht aber wiederum als letzte Hoffnung der Euroskeptiker positionierten. Im aktuellen Beschluss jedenfalls hat es durch eine weitere Ausdehnung der Zulässigkeitsregeln den Boden für künftige Folgeverfahren bereitet, was Lübbe-Wolff und Gerhardt in ihren Sondervoten vollkommen zu Recht kritisieren.
Vielleicht ist der Zweite Senat auch ganz froh, mit der Vorlage den Schwarzen Peter nach Luxemburg weitergereicht zu haben. Nur weniger Leser dürften ernsthaft geglaubt haben, dass Karlsruhe die Eurorettung im Alleingang stoppen würde. Wenn das deutsche Verfassungsgericht nunmehr den EuGH als Verbündeten ins Boot holt, stabilisiert dies im Idealfall die gesamteuropäische Rechtsgemeinschaft. Wahre Größe zeigt man auch dadurch, dass man sich die eigenen Grenzen eingesteht.