Warum studiert man in Deutschland nicht das Recht, sondern die Rechtswissenschaft? Womöglich gar im Plural? Das hat natürlich mit Friedrich Carl von Savigny zu tun. Und darum ist es nur folgerichtig, dass Benjamin Lahusen den so nachhaltig wirkenden Rechtsgelehrten in seinem elegant geschriebenen Savigny-Porträt als Chiffre für die ganze moderne Rechtswissenschaft verwendet.
„Savignys Name erinnert daran, dass das Recht und seine Gesellschaft in einem beständigen Spannungsverhältnis stehen, dass Lebenswelt und Lebensregeln immer wieder aufs Neue miteinander auszusöhnen sind“, resümiert der an der Universität Rostock tätige Rechtshistoriker Lahusen, nachdem er seine Leser in fünf kunstvoll verflochtenen und schön zu lesenden Kapiteln an Leben, Werk und Wirkung des Begründers der „historischen Schule“ erinnert hat.
Savigny, der dem deutschen Volksgeist das römische Recht ablauschte und dabei die Vergangenheit ganz in den Dienst der Gegenwart stellte, tritt uns hier als beeindruckende Geistesgröße mit menschlichem Makel entgegen. Als Rechtslehrer entfaltet er eine Anziehungskraft, die ihn weit über Juristenkreise hinaus zum vielbewunderten Wissenschaftler und Starintellektuellen macht; im persönlichen Umgang aber erweist er sich als unnahbare „Studiermaschine“, zur leidenschaftlichen Liebe ebenso unfähig wie zur freundschaftlichen Loyalität.
Die Brüder Grimm lauschen seinen Vorlesungen, Karoline von Günderrode bricht er das Herz, Bettine von Arnim und Clemens Brentano sind enge Freunde, Wilhelm von Humboldt holt ihn an seine Reformuniversität nach Berlin – mehr Romantik und Reformgeist konnte man in Deutschland kaum um sich haben. Und doch blieb Savigny ein entschiedener Verfechter der Restauration, „ein Aristokrat an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, der die Forderungen der Neuzeit mit den scheinbar neutralen Mitteln der Wissenschaft bekämpft“.
Mit dieser Wissenschaft erhält das Recht, wie Savigny selbst formuliert, ein „selbständiges Daseyn“ unter den Disziplinen. Das Recht rekonstruiert er als geschlossenes System, das sich selbst zur Rechtsquelle wird und damit den Gesetzgeber als politischen Akteur verdrängt. Schon in einer seiner ersten Marburger Vorlesungen beschreibt Savigny 1802 die Verbindung von Philosophie und Geschichte zu einer vollendeten juristischen Methode, die dem Rechtsstoff seine Kontingenz auszutreiben vermag. Der Student Jacob Grimm hat das damals protokolliert. Die Jurisprudenz, so Professor Savigny, „ist eine historische Wissenschaft. Sie ist auch eine philosophische. Diese beiden sind nun so zu vereinen; sie muß vollständig historisch und philosophisch zugleich sein“.
Die dogmatische Bearbeitung des positiven Rechts, die philosophische Erörterung seiner Legitimation und die historische Analyse seiner Entwicklung treten in Gemeinschaft auf und begründen mit dem Duktus objektiver Wissenschaftlichkeit das internationale Ansehen deutscher Rechtsgelehrsamkeit. Ihre Essenz landet bald zwischen den Buchdeckeln des Bürgerlichen Gesetzbuches, das zum 1. Januar 1900 in Kraft tritt und Geschichte und Philosophie für den Alltag der Juristen entbehrlich macht. Es blieb die Dogmatik, für die Lahusen das Attribut der Wissenschaftlichkeit offenkundig unangemessen findet – und der Glaube an ein geschlossenes System, den der Autor bis hin zu gegenwärtigen Projekten der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung kritisch verfolgt.
Bei Savigny wurde das Recht elitär: „Die Entfaltung der historischen Rechtsvernunft wird zur Sache einer Juristenaristokratie, die sämtliche politischen Gestaltungsversuche unter Hinweis auf die höhere Sachkunde der eigenen Erkenntnis abwehrt“, schreibt Lahusen. „Savigny ermöglicht der Rechtswissenschaft fast ein ganzes Jahrhundert autonomer Rechtsproduktion“. Recht wird zur Sache der Eliten, das Abstraktionsprinzip zum nationalen Kulturgut. Ein Paradox: „Ausgerechnet die Lehre vom Volksgeist hat eine Tradition maßgeblich initiiert, in der Gesetze nicht vom Volke kommen und sich nicht ans Volk richten.“
Diese undemokratische Tradition sieht Lahusen weiterhin fortgesetzt: „In der wissenschaftlichen Rechtskultur Deutschlands kommunizieren Rechtstechniker mit anderen Rechtstechnikern; das Publikum des Rechts sind die Juristen. Das ist die unweigerliche Nebenfolge einer Jurisprudenz, die die ausschließliche Zuständigkeit für die Verwaltung von Rechtswissen einer sorgfältig ausgewählten geistigen Elite zuschlägt.“
Die autonome Pflicht- und Freiheitsethik Savignys und seiner Erben wirft im vermeintlich unpolitischen Privatrecht politisch höchst brisante Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit auf. Wo private Unternehmen agieren, deren Umsatz das Bruttosozialprodukt vieler Staaten übersteigt, ist „Freiheit nicht Zustand, sondern Auftrag“. Die Materialisierung der ehemals streng formalen Rechtsinstitute des Privatrechts im Zeichen von Verbraucherschutz und Nichtdiskriminierung begegnet einer vehementen Kritik, die sich noch immer auf Savignys Fiktion eines „reinen Rechts“ bezieht.
„Die Bedeutung Savignys und seiner historischen Rechtsschule für unsere Rechtswelt heute können wir nicht hoch genug einschätzen“, schrieb Rudolf Wiethölter 1968 in der Publikation seiner vom Hessischen Rundfunk gesendeten Funk-Kollegs „Rechtswissenschaft“. Längst sind Wiethölters schneidend scharfe Beobachtungen Klassiker geworden, und seine Forderung nach nüchterner wissenschaftlicher Reflexion und Kritik des Rechts findet sich selbst in den unlängst veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für die Rechtswissenschaft in Deutschland.
Um Wiethölters vielbeschworene „Entzauberung der Rechtswelt“ geht es auch bei Lahusen, wenn der Rechtshistoriker mit soziologischer Leidenschaft „die Rechtsvernunft wieder mit der Gesellschaftsvernunft in Einklang bringen will“. Um die Juristen zu resozialisieren, seien ihnen die sozialen Folgen ihres Tuns immer wieder vor Augen zu führen. „Der Erwerb von Gesellschaftsfähigkeit bedeutet im Recht eine beständige Rückverunsicherung, welche die Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit des Systems langfristig aufbrechen kann.“
Diese Rückverunsicherung hat indes ihren Preis, der von den angehenden Juristen selbst zu zahlen ist – und von deren Lehrern: „Erreichen ließe sie sich nur über einen konkreten Bildungsauftrag, der das juristische Curriculum freilich erheblich erweitern würde. Man bräuchte, kurz gesagt, wieder philosophische Rechtsgelehrte.“ Also noch mehr Stoff. Noch mehr Wissen. Noch mehr Pflichtprogramm. Oder aber, und das scheint mir vorzugswürdig: Konzentration auf Grundlagen und Strukturen, exemplarisches Studium, reflexive Disziplinarität mit wachem Blick auf die „Nachbarwissenschaften“. Denn das geschlossene, auf wohlgeordnete Vollständigkeit angelegte System des Rechts war schon zu Savignys Zeiten nur eine Fiktion.
Benjamin Lahusen, „Alles Recht geht vom Volksgeist aus“. Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2013, 181 S., geb., 22,95 €.
Diese Rezension erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Februar 2013 (Nr. 34), S. 32.