Vor viereinhalb Jahren hat der EuGH sein epochales Urteil Kadi gefällt. Darin hat er für sich in Anspruch genommen, das Einfrieren des Vermögens von Leuten, die im Verdacht der Terrorfinanzierung stehen, am Maßstab der europäischen Grundrechte zu messen – auch wenn die Entscheidung dazu eigentlich der UN-Sicherheitsrat gefällt hat und nicht ein EU-Organ.
Aus menschenrechtlicher Perspektive war dieses Urteil eine Großtat: Das Einfrieren des Vermögens von Leuten, die im Verdacht stehen, Al-Kaida zu unterstützen, ist ein außerordentlich einschneidender Grundrechtseingriff, und dagegen war ursprünglich keinerlei individueller Rechtsschutz vorgesehen. Die Kadi-Entscheidung machte dem ein Ende: Auch in Fällen, wo das Völkerrecht keinen eigenen Entscheidungsspielraum lässt, so der EuGH 2008, dürfe die Achtung vor dem UN-Sicherheitsrat nicht zur Folge haben, dass hier mitten in der EU ein Bereich der grundrechtlichen Schutzlosigkeit entsteht.
Die Begründung des Urteils fand aber nicht überall Applaus. Wie passt eine solche Entscheidung zur Bindung der EU an das Völkerrecht? Will die EU den USA nacheifern und aus der Position des multilateralistischen Musterknaben ins Lager der exzeptionalistischen Völkerrechtsverächter überwechseln? Ist sie nicht selbst ein Kind des Völkerrechts und daher besonders zur Völkerrechtstreue angehalten?
Jetzt scheint sich im EuGH eine Kurskorrektur abzuzeichnen. Generalanwalt Yves Bot hat heute seine Schlussanträge im Fall Kadi II veröffentlicht. Das ist eigentlich immer noch der gleiche Fall Kadi, nur in der zweiten Runde. In der Zwischenzeit hat nämlich das Europäische Gericht in erster Instanz über die erneute Verfügung, Herrn Kadis Vermögen einzufrieren, entschieden. Scheinbar in treuer Umsetzung der Vorgaben des EuGH hat es detailliert geprüft, ob diese Verfügung rechtens war.
Der Generalanwalt schlägt vor, dass die EU-Justiz sich weiterhin vorbehält, die formelle Rechtmäßigkeit solcher Akte zu überprüfen: War das Verfahren in Ordnung? Sind dem Betroffenen die Gründe, warum er auf der Liste steht, mitgeteilt worden? Hatte er ausreichend Gelegenheit, sich zu verteidigen?
Die materielle Rechtmäßigkeit – also, ob er aus gutem oder schlechtem Grund, zu Recht oder zu Unrecht auf der Liste steht – sollen die EU-Gerichte dagegen im Regelfall nicht mehr prüfen. Das sollen sie künftig wieder allein die zuständigen UN-Gremien überlassen, die für die Anti-Terror-Politik schließlich die Verantwortung tragen. Nur bei offensichtlichen Fehlern sollen sie einschreiten dürfen.
Ein maßgeblicher Grund für dieses Plädoyer zum Sinneswandel ist, dass beim UN-Sicherheitsrat sich seit – oder durch? – das Kadi-Urteil vieles zum Besseren verändert hat. Es gibt eine unabhängige Ombudsperson, die darüber wacht, dass nur auf der Liste steht, wer auf die Liste gehört.
Dazu kommt, dass die Qualität der Liste davon abhängt, dass die Staaten dem Sicherheitsrat die nötigen Informationen zur Verfügung stellen – was sie womöglich nicht tun, wenn der sie an die EU-Justiz weiterreichen muss, damit die die Begründetheit der Aufnahme in die Liste überprüfen kann. Die Ombudsperson sei da ein viel besserer Weg, Terrorismusbekämpfung und Grundrechtsschutz in Ausgleich zu bringen, schreibt der Generalanwalt und distanziert sich dabei bis zu einem gewissen Grad vom dualistischen Völkerrechtsverständnis des Kadi-Urteils:
Meines Erachtens impliziert ein effektiver, auf weltweiter Ebene geführter Kampf gegen den Terrorismus statt eines Misstrauens das Vertrauen und die Zusammenarbeit zwischen den daran teilhabenden internationalen, regionalen und nationalen Institutionen. Das gegenseitige Vertrauen, das zwischen der Union und den Vereinten Nationen herrschen sollte, ist dadurch gerechtfertigt, dass die Achtung der Grundrechte ein gemeinsamer Wert dieser beiden Organisationen ist.
Das sei aber keine Blankovollmacht für den Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats. Der Kontrollumfang hängt davon ab, wie sehr dieses gegenseitige Vertrauen tatsächlich berechtigt ist. Mittlerweile, so der Generalanwalt, sei es berechtigt, weil die Kontrolle auf UN-Ebene funktioniere. Wenn sich das ändert, dann wird auch der EuGH wieder zupacken, wenn es um den Grundrechtsschutz geht:
Je transparenter das Verfahren innerhalb der Vereinten Nationen ist und je stärker dieses auf hinreichend zahlreiche und ernsthafte Informationen gestützt wird, desto weniger werden die regionalen und nationalen Umsetzungsinstitutionen versucht sein, die Beurteilungen des Sanktionsausschusses in Frage zu stellen.
Ich traue mir kein Urteil zu, wie berechtigt dieses Vertrauen in die Kontrolle auf UN-Ebene tatsächlich ist. Aber unterstellt, es ist so, wie der Generalanwalt sagt – die Richtung jedenfalls, die er einschlägt, ist mir nicht unsympathisch.
Die brüske Art, mit der Kadi I auf der Eigenständigkeit der europäischen Rechtsordnung gegenüber dem UN-Recht bestand, hat etwas Enges. Wer für provinziell hält, was Herr Gauweiler gern für das Grundgesetz im Verhältnis zur EU in Anspruch nehmen möchte, kann eigentlich mit dieser Linie auch nicht wirklich einverstanden sein. Wenn der EuGH dem Generalanwalt folgt und jetzt stärker die gemeinsame Arbeit an der Konstitutionalisierung des Völkerrechts in den Mittelpunkt stellt, dann ist das jedenfalls schon mal ein Gewinn und kein Verlust. Kadi II könnte für Kadi I das werden, was Solange II für Solange I war.