Die Regierung hat die Macht, die Opposition nicht. Gerade weil und insoweit die Opposition die Macht nicht hat, kann sie sich als Alternative präsentieren und eines Tages die Macht übernehmen und die Regierung machtlos machen. So funktioniert Demokratie: So ist sie vor Zeiten in England entstanden, so lernen wir es schon im Sozialkundeunterricht, und anders können wir sie uns gar nicht mehr vorstellen.
Was merkwürdig ist. Denn bei uns ist das überhaupt nicht so. Bei uns hat die Opposition immer einen Teil der Macht. Seit Jahrzehnten sind wir gewohnt, dass im Bundesrat die Union die Mehrheit bekommt, wenn im Bundestag die SPD an der Regierung ist, und umgekehrt. Dass die Volksparteien erodieren, hat daran nichts geändert, im Gegenteil: Damit kommen auch die kleinen Parteien immer mehr in die Situation, im Bundesrat für die Mehrheitsbildung gebraucht zu werden. Dazu kommt ein weiterer Effekt des Fünf-(Sechs)-Parteiensystems: Der Gegner von heute ist stets der Koalitionspartner von morgen.
Und umgekehrt hat immer die Regierung einen Teil der Nicht-Macht. Die CSU opponiert seit den Tagen von Franz-Josef Strauß aus der Regierungsposition heraus, das ist ganz normal geworden. Die SPD-Linke ebenfalls. Von einer klaren, harten Differenzierung zwischen Macht und Nicht-Macht, von einem binären Code Regierung/Opposition kann jedenfalls in der seit Jahrzehnten geübten Praxis keine Rede sein.
An unserem Vorurteil, dass diese Differenzierung konstituierend ist für eine funktionierende Demokratie, hat dies eigentümlich wenig zu ändern vermocht. Allenfalls gab es Ansätze, diese Praxis zu problematisieren, als Politikverflechtung und Herrschaft der Vetospieler. Und es gab Versuche, diese Praxis zu verändern: Als Merkel und Stoiber 2003 merkten, dass sie über ihre Mitsprache im Vermittlungsausschuss sich mithaftbar machten für die rot-grünen Reformgesetze, leuchtete ihnen der Gedanke einer Föderalismusreform plötzlich ungeheuer ein. Da wurde aber bekanntlich nicht viel draus.
Man kann die Konstellation der Regierungsopposition/Oppositionsregierung aber auch ganz anders bewerten. Im Yale Law Journal ist jetzt ein Aufsatz von David Fontana von der George Washington University erschienen, der den Spieß umdreht: „Government in opposition“ sei ein hoch modernes Element der Gewaltenteilung, das auch einer scheinbar so binären Regierungs-Oppositions-Demokratie wie den USA gut zu Gesicht stünde.
Der Regierung die ganze Macht zu geben und der Opposition überhaupt keine, ist eine prekäre Sache: Was würde sie dann daran hindern, eine Diktatur der Mehrheit zu errichten und die Minderheit zu unterdrücken? Nur noch die mehr oder weniger reale Möglichkeit, die Macht eines Tages wieder zu verlieren und es dann heimgezahlt zu bekommen. Wer die Macht hat, der hat aber stets auch Möglichkeiten genug, die Mehrheit bei Laune zu halten und so seine Macht abzusichern (Putin, Berlusconi).
Nur in sehr homogenen Gesellschaften ist das Mehrheits-Paradigma wirklich ein demokratietheoretischer Trumpf. Die gibt es aber fast nirgends mehr. Die Konsequenz: Die Minderheit zwingt die Mehrheit, zu verhandeln. Oder mit anderen Worten: Government in Opposition.