Kurzfristig ist das Schweizer Minarett-Referendum zweifellos eine furchtbare Sache – vor allem für die Schweizer Muslime sowie all jene zahlreichen Schweizer, die sich für das Ergebnis schämen und nun in der ganzen Welt – mitgefangen-mitgehangen – genauso als xenophobe Vierkantschädel dastehen wie ihre majoritären Mitbürger.
Aber längerfristig könnte der Vorgang das europäische Verfassungsverständnis revolutionieren: Wir sind immer noch gewohnt, unsere nationale Verfassung als den Schlussstein der Normenpyramide zu betrachten, als den obersten Haken, an dem alles Recht aufgehängt ist und aufgehängt sein muss, sonst gilt es für uns nicht.
Der Fall der Schweiz eignet sich wie kaum ein zweiter als Demonstrationsobjekt, um zu zeigen, dass das so nicht funktioniert. Und dass man mit euroskeptischen Verschwörungstheorien nicht weit kommt, um diesen Tatbestand zu erklären.
Die Schweiz ist kein EU-Mitglied; das haben die Schweizer Bürger ebenfalls mit großer Mehrheit so gewollt und so entschieden. Die Schweiz ist aber Mitglied zahlreicher völkerrechtlicher Verträge, deren Institutionen vielfach ihren Sitz in der Schweiz haben: Genf ist geradezu die Heimatstadt des Völkerrechts (und im übrigen einer der wenigen Kantone, die mehrheitlich gegen das Minarett-Verbot gestimmt haben). Dazu gehört auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), über deren Einhaltung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg wacht.
Das Minarett-Verbot steht künftig in der Schweizer Verfassung und ist nach traditioneller demokratietheoretischer Betrachtungsweise mit den höchsten Legitimationsweihen gesalbt, die man sich denken kann. Und ist doch rechtswidrig. Nicht nur politisch dumm und ethisch fragwürdig. Nein, rechtswidrig.
Wenn der EGMR einen Verstoß gegen die EMRK feststellt – wofür wahrhaftig viel spricht -, dann kommt es zum Schwur: Werden die Schweizer tatsächlich sagen, ist uns doch egal, wenn wir unsere völkerrechtlichen Verpflichtungen brechen und weltweit als verurteilte Menschenrechtsverletzer dastehen? Werden sie im Ernstfall bereit sein, sich aus dem Europarat zu verabschieden und aus dem UN-Zivilpakt auch? Wollen sie wirklich den Weg in eine isolationistische Enver-Hodscha-Autarkieexistenz antreten? Die Regierung schon mal bestimmt nicht. Und für die Bürger wird zumindest klar, welchen Preis sie für ihren atavistischen Demokratiebegriff zu entrichten haben.
Update: Ralf Grahn macht in seinem Blog darauf aufmerksam, dass die Schweiz seit 11. November den Vorsitz des Ministerausschusses des Europarats innehat und dort u.a. „protection of human rights“ zu einem der Schwerpunkte seiner Amtszeit erkoren hat. Da wünschen wir doch von Herzen viel Erfolg dabei.
Update: Eine ausführliche und sehr lesenswerte Analyse von Anne Peters zum Minarett-Verbot, der EMRK und den Folgen hier.