11. September 2018

Hans Michael Heinig

VB vom Blatt: Sechs Gedanken zum Chefarzt-Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Einem Chefarzt an einem katholischen Krankenhaus zu kündigen, weil er als Katholik gegen das Gebot der Unauflöslichkeit der Ehe verstoßen hat, kann als religiöse Diskriminierung gegen Europarecht verstoßen. Das hat der Europäische Gerichtshof heute entschieden. Sechs Gedanken von Hans-Michael Heinig, Experte für Religionsverfassungsrecht, zu dem heutigen Grundsatzurteil aus Luxemburg:

1. Der EuGH hat das bisherige System des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland, die bisher vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Grundkoordinaten, wie erwartet, verworfen. Die Entscheidung des EuGH stärkt die Arbeitnehmerrechte und das Anliegen der Diskriminierungsverbote – zulasten der kirchlichen Selbstbestimmung und der mitgliedstaatlichen Autonomie, jeweils das Religionsrecht nach eigenen Traditionen zu gestalten.

2. Die Kirchen hatten in der Vergangenheit erkennbar Schwierigkeiten, ihre arbeitsrechtlichen Vorstellungen konsistent praktisch umzusetzen und einer säkularer und pluraler werdenden Gesellschaft plausibel zu vermitteln. Davon zeugt auch der vom EuGH entschiedene Fall. Bei dem spricht viel dafür, dass die Kündigung letztlich rechtswidrig war. Die katholische Kirche war schlecht beraten, diesen Fall durch alle Instanzen zu treiben.

3. Doch die Entscheidungsbegründung des EuGH zeigt zugleich: Dem Gericht mangelt es an Sinn dafür, dass im kirchlichen Arbeitsrecht implizit theologische Fragen verhandelt werden, die zu beantworten der säkulare Staat sich nicht anmaßen darf. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung immer Rücksicht genommen, vielleicht allzu sehr, so dass es nicht mehr zwingend zu einer symmetrisch angelegten Abwägung mit den kollidierenden Rechte der Arbeitnehmer kam.

4. Anders als der in Straßburg ansässige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verweigert der Europäische Gerichtshof sich auch dem Anliegen, auf mitgliedstaatliche Eigenheiten und verfassungsrechtliche Traditionen im Staat-Kirche-Verhältnis ernsthaft Rücksicht zu nehmen, obwohl das Europarecht dafür mit dem Religionsartikel in Art. 17 AEUV durchaus Raum bietet.

5. Der EuGH legt die maßgebliche RL 2000/78/EG auch ohne Rücksicht auf den Willen des Gesetzgebers, die Entstehungsgeschichte und die Systematik des Normengefüges aus. Primärrechtliche Grundlage der Richtlinie war Art. 13 EGV. Erforderlich war ein einmütiges Vorgehen der Mitgliedstaaten. Zahlreiche Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, wollten mit der Zustimmung zur Antidiskriminierungsrichtlinie aber nicht zugleich ihr kirchliches Arbeitsrecht zur Disposition stellen. Deshalb sollte der vom EuGH nun herangezogene Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie gegenüber dem generellen Tendenzschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie extensiver gefasst werden. Dieses Verhältnis verkehrt der EuGH um und behandelt den besonderen Schutz religiöser Organisationen als eine besonders restriktiv zu verstehende Klausel. Der vollkommen missglückte Wortlaut der Norm lässt dafür hinreichend Raum.

6. In der kirchlichen Praxis wird sich durch die Entscheidung nicht sehr viel ändern. Schon der Fachkräftemangel im Gesundheits- und Pflegewesen zwingt die Kirchen dazu, Abstriche von den eigenen arbeitsrechtlichen Idealvorstellungen zu nehmen. Sie haben in den letzten Jahren ihr Arbeitsrecht deshalb auch schrittweise angepasst. Aber die langfristigen Folgen können gravierend sein, wenn das Europarecht sich weigert, auf die Eigenarten des Religiösen überhaupt Rücksicht zu nehmen, wenn die Kirchen mit den Mitteln des Rechts zur Selbstsäkularisierung gezwungen werden. In Polen und Ungarn etwa wird die Entscheidung eh schon vorhandene Vorbehalte gegenüber der europäischen Integration bestärken und verstärken.

 

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