Die heutige Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Sitzblockaden wird überall als superdemonstrantenfreundlich gefeiert. Tagessschau.de beispielsweise: „Demonstrationsfreiheit bei Sitzblockaden gestärkt“. Oder FAZ.net, noch schöner: „Sitzblockade nicht stets Nötigung“.
Das passt sicher irgendwie in die Zeit, wo doch am Sonntag die Grünen so doll gewonnen haben.
Tatsächlich aber ist es so: Diese Entscheidung versteht sich teilweise von selbst, und soweit sie das nicht tut, ist sie für die Versammlungsfreiheit gar nicht so besonders günstig.
Nötigung: Nicht stets, aber oft
Die Kammer hat zum einen die so genannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH bestätigt. Die besagt, dass es zwar keine gewaltsame Nötigung ist, wenn man durch sein schieres Auf-der-Straße-Sitzen einen Autofahrer zum Anhalten zwingt. Aber wenn dann ein zweiter Autofahrer wegen des ersten blockierten Autos nicht weiterfahren kann, dann sei das gewissermaßen so, als habe der Demonstrant dieses erste Auto genommen und damit gewissermaßen den Verkehrsfluss gewaltsam zugestopft. Und das sei dann gewaltsame Nötigung und somit strafbar.
Nicht einleuchtend? Macht nichts. Ist Strafrecht. Strafrecht ist nicht einleuchtend. Strafrecht ist Strafrecht.
Das Verfassungsrecht dahinter beruht auf der berühmten Entscheidung des BVerfG von 1995, das die ebenso berühmte Mutlangen-Entscheidung von 1986 korrigierte und besagte, dass es doch irgendwie ein bisschen weit geht, es als Gewalt zu bezeichnen, wenn jemand bloß auf der Straße herumsitzt, wo doch Art. 103 II GG besagt, dass Strafgesetze bestimmt genug formuliert sein müssen, dass man ihnen entnehmen kann, was verboten ist und was nicht.
Diese „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ war dann eine sehr elegante Idee, wie man dieser Linie des BVerfG dem Buchstaben nach folgen und strafrechtlich in weiten Teilen trotzdem alles beim Alten lassen kann: Sobald das zweite Auto anhält, nötigt der Sitzblockierer gewaltsam und macht sich daher strafbar, in den 70ern, 80ern, 90ern und heute auch.
(Nur die Castor-Blockierer sind fein raus, weil dem einen Zugführer kein zweiter folgt. Ist eigentlich schon mal jemand auf die Idee gekommen, zwei Castor-Züge hintereinander fahren zu lassen? Dann hätte man die auch am Wickel…)
In dem heute veröffentlichten Kammerbeschluss sagt nun das BVerfG ausdrücklich, dass diese Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH in Ordnung geht und das Bestimmtheitsgebot bzw. das Analogieverbot nicht verletzt: Das erste Auto beuge sich nur psychischer Gewalt, das zweite und alle weiteren dagegen physischer Gewalt.
Nun gut. Was immer das ist, ein Durchbruch für die Versammlungsfreiheit ist das nicht.
Ein Landgericht verirrt sich im Grundrechtswald
Im zweiten Teil des Beschlusses holt sich das Landgericht Frankfurt am Main eine väterliche Belehrung ab: Das LG hatte der Sitzblockade kurzerhand den Charakter eines nach Art. 8 GG geschützten Versammlung aberkannt, aus Gründen, die die Kammer ersichtlich in Verwirrung stürzen:
Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Demonstranten sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen könnten, weil ihre Aktion der Erregung von Aufmerksamkeit gedient habe, hat es den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit verkannt. Der Umstand, dass die gemeinsame Sitzblockade der öffentlichen Meinungsbildung galt – hier: dem Protest gegen die militärische Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte im Irak und deren Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland -, macht diese erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Versteht man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass es zum Ausdruck habe bringen wollen, die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt, erweisen sich diese Erwägungen ebenfalls verfassungsrechtlich als nicht tragfähig. Den der Entscheidung des Landgerichts zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts sowie den eigenen rechtlichen Erwägungen des Landgerichts lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die auf das Vorliegen einer solchen konkreten, vor Ort durchsetzbaren Forderung auf Seiten der Demonstranten deuten. Begreift man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass der Aktion der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG deshalb abzusprechen sei, weil die Demonstranten sich unfriedlicher Mittel im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG bedient hätten, halten sie einer verfassungsrechtlichen Prüfung ebenfalls nicht stand. Der Entscheidung des Landgerichts sowie den zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass es bei der Aktion zu Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen gekommen ist und die Versammlung hierüber insgesamt einen durch Aggressionen geprägten unfriedlichen Charakter gewonnen hat.
Dass Sitzblockaden in den Schutzbereich des Art. 8 GG fallen, ist meines Wissens seit mindestens 20 Jahren bekannt.
Ich bin jetzt kein Experte im Versammlungsrecht, aber ist das nicht eine totale Einzelfallentscheidung? Ist das tatsächlich mehr als ein landgerichtlicher Ausreißer, der hier korrigiert wird?
Foto: GuentherHH, Flickr Creative Commons
