Heute erreicht mich eine Mail, in der ich aufgefordert werde, einen Aufruf zur Solidarität mit der griechischen Regierung und ihrem geplanten Referendum zu unterstützen. Der am Londoner Birkbeck College lehrende Juraprofessor Costas Douzinas hat ihn formuliert, zu den Erstunterzeichnern zählen linke Luminaries wie Etienne Balibar und Slavoj Zizek. Mit großer Emphase werde ich aufgefordert, das von Tsipras zurückgewiesene Angebot der EU als non-negotiable package that would entrench austerity und ultimatum to the Greek people and democracy zu verdammen und das für Sonntag angesetzte Referendum als Triumph der Demokratie zu feiern:
The Greek referendum gives the European Union a chance to restate its commitment to the values of the Enlightenment – equality, justice, solidarity – and to the principles of democracy on which its legitimacy rests. The place where democracy was born gives Europe the opportunity to re-commit to its ideals in the 21st century.
Das klingt ja erst mal toll. Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie – wer will da schon dagegen sein. Aber ich bin ehrlich gesagt ein bisschen durcheinander. Ich hätte da noch ein paar Fragen, bevor ich mich entscheide.
1. Wenn ich das richtig verstanden habe, gab es über dieses non-negotiable package bis Ende letzter Woche eine Menge Verhandlungen, oder nicht? Es gab zuletzt noch Meinungsverschiedenheiten, ob die Mehrwertsteuerreform 1% des BIP bringen soll oder nur 0,93%, ob die griechischen Inseln ihren Steuerabschlag behalten sollen, ob der Militärhaushalt um 200 oder 400 Millionen Euro gekürzt werden soll und allerhand mehr. Sogar den Primärüberschuss von 3,5% in 2018, der ökonomisch so vollkommen gaga sein soll, hatte die griechische Regierung zuletzt ja offenbar geschluckt. Ist es dieses Rest-Delta zwischen der EU– und der griechischen Position, über das ich mich jetzt aufregen soll?
2. Oder ist es der Action Plan insgesamt, die ganze Liste mit Maßnahmen, die Griechenland der Kommission, der EZB und dem IWF versprechen soll? Er ist es ja offenbar, über den die Griechen am Sonntag abstimmen sollen, wenn ich den Wahlzettel richtig verstehe:

3. Oder ist es auch nicht diese Maßnahmenliste, sondern die dahinter stehende Ideologie der Austerity? Bei Varoufakis war ja nie so richtig herauszukriegen, was er jetzt am griechischen Rentensystem oder an den griechischen Militärausgaben genau für gut oder schlecht hält, dafür um so mehr über seine Haltung zu Austerity. Ist es das? Soll ich das Referendum am Sonntag als Abstimmung pro oder contra Austerity deuten? Soll ich in einem Streit um das ökonomisch richtige Handeln in Schuldenkrisen Position beziehen?
4. Soll meine Positionierung ein Beitrag sein, die griechische Abstimmung zu einer europäischen zu machen und das griechische Stimmvolk quasi zu einem Pars pro Toto einer europäischen Öffentlichkeit oder so etwas in der Art?
5. Oder ist mit der Formulierung, dass das Referendum eine Chance für Europa ist, sein Bekenntnis zu seinen Werten usw. zu erneuern, etwas anderes gemeint? Nämlich, dass ein Referendum, das den Mehrheitswillen der Griechen zu einer (obendrein breit interpretierbaren) Frage der gesamteuropäischen Schuldenproblematik ermittelt, von ganz Europa als unhinterfragbare autoritative Ansage, als quasi innere Angelegenheit eines souveränen Staatsvolks zu betrachten ist?
6. Wenn das gemeint ist: Ist es nicht, apropos europäische Werte, genau das, was wir als Mitglieder der Europäischen Union eigentlich nicht mehr tun wollten? Zu sagen, wir finden das jetzt so, wir sind schließlich souverän, und ihr da draußen könnt uns alle mal? Ist nicht das der ganze Witz an der EU, und damit auch ganz zentral für ihre Legitimationsgrundlage, dass wir nicht mehr ausschließlich versuchen, für uns das meiste rauszuholen und all others be damned, sondern stattdessen zäh und hart und geduldig miteinander verhandeln, notfalls über Monate und unter höchstem Druck, so lange, bis schließlich alle total erschöpft mit einer Lösung rausgehen, die alle zähneknirschend mittragen?
7. Waren die Verhandlungen in der Nacht auf Samstag nicht genau solche Verhandlungen? In die hinein dann die Nachricht platzte, dass die griechische Regierung ihrer Constituency mitnichten ein gemeinsames Verhandlungsergebnis, sondern die Verhandlungsposition der anderen Seite dem eigenen Volk zur Abstimmung vorlegen würde? Wer stellt da wem ein Ultimatum?
8. Bin ich ein böser Austerity-Befürworter, wenn ich einräume, dass die deutsche Regierung und der größere Teil der deutschen Öffentlichkeit aus ad nauseam diskutierten Gründen viel zu lange darauf bestanden hat, die Griechen für ihre Schuldenprobleme tüchtig leiden zu lassen, dass das töricht war, moralisch, politisch und von mir aus auch ökonomisch falsch, aber diese Art des Umgangs mit Verhandlungspartnern in Europa trotzdem nicht in Ordnung finde?
9. Lässt sich diese Art des Umgangs nur entweder als irrationale Übersprungshandlung überforderter Amateure erklären oder als geradezu leninistische Wer-Wen-Strategie und Versuch, eine Bombe mitten im Herzen der europäischen Integration zu platzieren? Oder gibt es da noch andere Erklärungsmöglichkeiten?
Das ist es, was ich mich frage. Solange ich darauf keine Antwort habe, kann ich den Aufruf leider nicht unterschreiben.