„Abwegig“ findet der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier die Forderungen deutscher Politiker nach einem Boykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine. In der Sprache der Juristen ist das eine klare Ansage: Finger weg von solchem Blödsinn. Nicht nur, weil niemand im EM-Stadion Norbert Röttgen vermissen würde und ein Boykott ohnehin vor allem die Falschen trifft. Papier legt eine interessante Alternative auf den Tisch, die vor ein paar Tagen schon von Philipp Mißfelder ins Spiel gebracht wurde. „Deutschland könnte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Ukraine verklagen“, empfiehlt Papier in der Welt am Sonntag, räumt aber ein: „Dieser Weg wird wahrscheinlich deshalb nicht beschritten, weil er nicht als medienwirksam genug angesehen wird.“
Warum eigentlich nicht? Immerhin ist die Staatenbeschwerde in Straßburg ein politisch deutliches Signal. Nur in wenigen Fällen wurde sie bislang eingereicht – aber immer waren das Fälle von grundsätzlicher Bedeutung und enormer politischer Tragweite. Es ging, wie im Nordirlandkonflikt und im Zypernkonflikt, um strukturelle Menschenrechtsverletzungen großen Umfangs.
Allerdings ist die Staatenbeschwerde auch eine langwierige Sache, wegen des Klagestaus im völlig überlasteten EGMR. Die beiden aktuell in Straßburg anhängigen Staatenbeschwerden, 2007 und 2008 von Georgien gegen Rußland erhoben, harren immer noch der Entscheidung. Die zweite, Georgia v. Russia No. 2, App. No. 38263/08, wurde im April an die Große Kammer überwiesen. Auch wenn jetzt gegen die Ukraine ein Eilantrag erfolgreich wäre, wird eine Entscheidung in der Hauptsache Jahre in Anspruch nehmen.
Herr Westerwelle sollte also mit seinen humanitären Bemühungen um Julija Timoschenko nicht nachlassen. Eine Klageerhebung schließt das aber nicht aus. Dabei sollte die Bundesregierung unbedingt versuchen, die europäischen Partner ins Boot zu holen – wie das der juristisch offenbar gut beratene Mißfelder unter Hinweis auf Artikel 21 EU empfohlen hat.
Im bislang wohl bedeutsamsten Straßburger Staatenbeschwerdeverfahren, eingeleitet durch die nach dem Militärputsch der Obristen 1967 gegen Griechenland von Dänemark, Norwegen, Schweden und den Niederlanden eingereichten identischen Klagen, hatten sich vier Konventionsstaaten zusammengetan, um das totalitäre Regime in Athen vor Gericht zu bringen. Die umfangreichen Untersuchungen der Menschenrechtskommission brachten gravierende Menschenrechtsverletzungen ans Licht, katastrophale Zustände in griechischen Gefängnissen und die systematische Folter von Oppositionellen. Auch wenn ein Urteil durch den Austritt Griechenlands aus dem Europarat vereitelt wurde und das Verfahren insgesamt die Grenzen des Straßburger Systems deutlich machte: auf lange Sicht trug das Straßburger Verfahren zur Schwächung des Regimes bei und förderte den demokratischen Umbruch.
Mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrer Unterzeichnung bewährte sich die EMRK hier trotz aller Schwächen als System kollektiven Menschenrechtsschutzes. Ihre Gründerväter hatten sie, mit dem Pathos der frühen Nachkriegsjahre, als Bollwerk gegen ein neuerliches Abgleiten in den Totalitarismus konzipiert – als „das Gewissen, das wir alle nötig haben“, wie Pierre-Henri Teitgen formulierte.