Irre ich mich oder häufen sich in letzter Zeit die Fälle, wo Demokratie und Menschenrechte ungebremst miteinander clashen? Zwei Beispiele sind vielleicht noch ein bisschen wenig, um einen Trend zu konstatieren. Aber die zeitliche Koinzidenz, dass gerade ausgerechnet zwei der Mutterländer der Demokratie in heftige Debatten über ihre völkerrechtlichen Bindungen in punkto Menschenrechte verstrickt sind, fällt schon ins Auge.

Gemeint sind Großbritannien und die Schweiz.

„Democratic Override“

Die Briten haben bekanntlich ihre Probleme mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Vor allem dessen Forderung, britische Strafgefangene müssten wählen dürfen, macht der konservativ-liberalen Regierung heftiges Bauchweh.

Jetzt sorgt eine Kommission für Aufregung, die von der Regierung beauftragt wurde, Vorschläge zur Reform des EGMR zu machen. In dieser Kommission gab es offenbar hitzige Diskussionen, ob man sich für eine Art „democratic override“ aussprechen sollte, wie aus einem Begleitbrief des Kommissionsvorsitzenden hervorgeht: Die Parlamentarische Versammlung des Europarats oder das Ministerkomittee oder beide gemeinsam sollten das Recht bekommen, Urteile des EGMR außer Kraft zu setzen. Als „Variante“ sei auch denkbar, dass das Ministerkommittee ein Urteil für unanwendbar erklären kann, wenn das betroffene nationale Parlament dies empfiehlt.

Interessant dabei: Das Ausschussmitglied, das dies fordert, steht offenbar auf dem Standpunkt, so etwas sei in Ländern mit Verfassungsgerichtsbarkeit gang und gäbe:

In states where there is a supreme court with powers to strike down legislation there is always some mechanism, usually requiring an enhanced majority or approval in more than one forum, whereby the democratic will can ultimately prevail over court decisions.

Als Beispiel wird Sec. 33 der kanadischen Charta of Rights and Freedoms angeführt. Die Behauptung, noch dazu „always“, überrascht: In Deutschland könnte man allenfalls den verfassungsändernden Gesetzgeber als „democratic override“ bezeichnen. Auffällig ist aber, dass das doch nicht ganz fernliegende Gegenbeispiel USA dem Autor offenbar nicht in den Sinn gekommen ist.

Mehr zu den Kommissionsvorschlägen hier und hier.

Was tun, wenn das Volk das Völkerrecht bricht?

In der Schweiz geht es um eine etwas andere Konstellation: Dort kann bekanntlich das Volk viele Dinge direkt entscheiden. Und dabei kommt es immer häufiger vor, dass Volksinitiativen in glashartem Gegensatz zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz stehen. Jüngstes Beispiel: die „Ausschaffungsinitiative„, wonach Ausländer ausgewiesen müssen, wenn sie bestimmte Straftaten begangen müssen – egal was ihnen in ihrem Heimatland für ein Schicksal droht. Das Minarettverbot in der Verfassung gehört wohl auch dazu.

Vor dem Hintergrund gibt es in der Schweiz seit einigen Monaten eine Diskussion, eine Völkerrechtmäßigkeitskontrolle in das Verfahren der Volksinitiative einzuziehen. Im März hatte die Bundesrats-Regierung vorgeschlagen, eine unverbindliche Vorabkontrolle einzuführen, so dass das Volk, wenn es über eine Initiative abstimmt, wenigstens erkennen kann, dass es sich um eine völkerrechtlich problematische Materie handelt.

Aus dem Dilemma Demokratie vs. Menschenrechte kommt man damit aber nicht heraus: Bloß weil da „Vorsicht Völkerrechtsverstoß“ draufsteht, scheitert so eine richtig kernige SVP-Initiative doch nicht. Eher im Gegenteil. Und dann kann man wählen, ob man sich vom EGMR permanent wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilen lässt oder ob man die direkt vom Volk legitimierten Initiativen wegen Verstoß gegen höherrangiges Recht unangewendet lässt. Beides nicht so toll.

Eine der Möglichkeiten, das Dilemma loszuwerden, wäre eine Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen. Die gibt es bekanntlich nicht in der Schweiz (auch nicht in England), vielmehr befiehlt Art. 190 der Schweizer Bundesverfassung den Gerichten ausdrücklich, auch verfassungswidrige Bundesgesetze anzuwenden. Bei Völkerrechtsverstößen können die Bundesgerichte allerdings Gesetze unangewendet lassen, aber nur, soweit es sich um ius cogens handelt.

Wenn man die Unüberprüfbarkeit von Bundesgesetzen aus Art. 190 streicht, dann könnte die Justiz auch die Volksgesetzgebung materiell am Maßstab der Grund- und Menschenrechte messen und im Konfliktfall für ungültig erklären. Und der SVP wäre das Argument aus der Hand geschlagen, dass irgendwelche Straßburger die heiligen Volksrechte der Eidgenossen mit Füßen treten, weil dann täten das ja schon die höchsteigenen Schweizer Richter.

Eins scheint aus beiden Beispielen, Schweiz und Großbritannien, jedenfalls zu folgen: Wohl dem, der ein Verfassungsgericht hat.  Der Clash zwischen Demokratie und Menschenrechten fällt dann zumindest sehr viel milder aus, wenn es eine nationale Verfassungsgerichtsbarkeit gibt. Sie bändigt die Parlaments- bzw. Volkssouveränität, aber sie tut dies bereits auf nationaler Ebene, was die Kontrolle nicht als ausländische Fremdbestimmung aussehen lässt.

Das ist auch eine Facette im häufig so schwierigen Verhältnis zwischen nationalen und inter- bzw. supranationalen Verfassungsgerichten.

Update: Noch ein Beispiel, das man zumindest mittelbar in diese Reihe einordnen könnte – die Verfassungsänderung im US-Staat Oklahoma, von 70% der Bürger dieses famosen Gemeinwesens gebilligt, wonach die Richter des Staates sich künftig folgender Regel zu beugen haben:

The courts shall not look to the legal precepts of other nations or cultures. Specifically, the courts shall not consider international law or Sharia Law.

Das bleibt – den US-Bundesgerichten sei Dank – freilich bisher noch nur Behauptung. Mehr dazu hier und hier.

 

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