Am Mittwoch hat sich Karlsruhe ausgiebig mit dem Beamtenstreikverbot befasst. Ein alter Hut ist das längst nicht mehr. Anlass waren vier Verfassungsbeschwerden (Az.: 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15) – eingereicht von drei Lehrerinnen und einem Lehrer aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Sie hatten sich an Streiks der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) beteiligt und vom Dienstherrn Geldbußen erhalten. Nun stehen sie vor dem Bundesverfassungsgericht. Wenn das Beamtenstreikverbot kippt, werden sie sich freuen. Aber nicht alle Beamtenkollegen – deutschlandweit sind es 1,8 Millionen – sehen das so. Mit einer Entscheidung für den Beamtenstreik könnte es nämlich mit dem schönen Beamten-Dasein ein Ende haben, so die Sorge des Beamtenbundes. Man sieht: Die Tragweite der Entscheidung ist groß.
Zu Recht sind in jüngerer Zeit Zweifel am Beamtenstreikverbot aufgekommen. Zurückgeführt wird es auf die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ in Art. 33 Abs. 5 GG. Die stammen aus dem 19. Jahrhundert, ausgeformt durch das Bundesverfassungsgericht. Kein Parlament hat sie je beschlossen. Außerdem widersprechen sie den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Gut, dass Karlsruhe diesen Anachronismus einer Prüfung unterzogen hat. Nun ist Mut zur Modernisierung gefragt!
Die Vorgeschichte
Dass sich Karlsruhe heute mit dem Beamtenstreikverbot befassen muss, haben wir zwei türkischen Gemeindebeamten zu verdanken, die sich vor rund zehn Jahren an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben. Der hat geurteilt, dass ein pauschales Streikverbot für Beamte konventionswidrig sei („Demir und Baykara“, Nr. 34503/97 und „Enerji Yapi-Yol Sen“, Nr. 68959/01). Ausnahmen gelten nur für Personen im Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit, etwa Polizisten oder Soldaten. Zum deutschen Beamtenstreikverbot hat Straßburg zwar nichts gesagt. Hierzulande haben Urteile aber anerkanntermaßen eine „Orientierungswirkung“.
Beflügelt durch diese Einschätzung aus Straßburg wagten in der Folgezeit mehrere Lehrer den Streik und zogen gegen die Disziplinarmaßnahmen vor die Verwaltungsgerichte. Erstinstanzlich fielen die Entscheidungen sehr unterschiedlich aus. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Az. 31 K 3904/10.O) erließ den Klägern als Akt der Konventionsfreundlichkeit jedenfalls ihre Geldbußen, und das Verwaltungsgericht Kassel (Az. 28 K 1208/10.KS.D) gab den beiden Klägern sogar Recht. Dagegen hielten das Verwaltungsgericht Osnabrück (Az. 9 A 1/11) und das Verwaltungsgericht Bremen (Az. D K 20/11) ganz traditionell am Beamtenstreikverbot fest. Einheitlicher waren dann die Entscheidungen der zweiten Instanz. Das Oberverwaltungsgericht Münster (Az. 3d A 317/11.O) sah in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ebenso wie auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (Az. 20 BD 7/11) keine wirkliche Bedrohung für das deutsche Beamtenstreikverbot. Jedenfalls seien die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ unantastbar.
Auch das Bundesverwaltungsgericht hielt 2014 grundsätzlich am Beamtenstreikverbot fest (Az. 2 C 1/13). Trotzdem hieß es, das Streikrecht für Beamte stehe im Widerspruch zur EMRK. Statt nachzubessern, reichten die Leipziger Richter das Heft des Handelns aber an den Gesetzgeber weiter. Dieses Vorgehen überraschte. Ebenso gut hätten die Richter das Recht nach Art. 33 Abs. 5 GG konventionskonform auslegen können. Auch die Bindung an entgegenstehende verfassungsgerichtliche Entscheidungen nach § 31 Abs. 1 BVerfGG unterliegt der konventionsfreundlichen Auslegung und sperrt eine Anpassung an die Vorgaben aus Straßburg nicht.
Die Entscheidungsoptionen in Karlsruhe
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Lehrkräfte eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG. Die Koalitionsfreiheit gewährleiste ein Streikrecht auch für Beamte, jedenfalls aber für verbeamtete Lehrkräfte, meinen sie. Darüber hinaus verweisen die Beschwerdeführenden auf den Grundsatz der völkerrechts- und konventionsfreundlichen Auslegung des nationalen Rechts. Das Streikrecht könne nach Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht statusbezogen, sondern nur nach funktionalen Kriterien eingeschränkt werden.
Wie wird Karlsruhe entscheiden? Die mündliche Verhandlung am Mittwoch hat jedenfalls eines deutlich gemacht: Es ist schwierig. Möglichkeiten, das Beamtenstreikverbot noch zu retten, gäbe es genug: Der einfachste, aber am wenigsten überzeugende Weg wäre es, den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die ja gegenüber der Türkei ergangen sind, die Orientierungswirkung abzusprechen. Man könnte es kurz machen und eine Vergleichbarkeit zwischen türkischer und nationaler Rechtslage verneinen. Häufig verweist man in solchen Fällen mit leicht überheblicher Manier auf die demokratischen und menschenrechtlichen Defizite in der Türkei. Damit – so der Tenor – wolle man sich hierzulande gar nicht vergleichen.
So einfach kann man es sich allerdings nicht machen. Die Aussagen des Straßburger Gerichtshofs sind recht klar und verallgemeinerungsfähig: Ein statusbezogenes Streikverbot – wie es in Deutschland gilt – ist mit Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht vereinbar. Diese Wertentscheidung hat Orientierungswirkung und muss berücksichtigt werden, auch in Deutschland. Möglich ist das. Art. 33 Abs. 5 GG lässt eine konventionsfreundliche Auslegung zu. „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln“, heißt es dort. Vor allem die „Fortentwicklungsklausel“ ist geradezu eine Einladung, europarechtsfreundliche Impulse zu verarbeiten. Warum also nicht ein funktionsbezogenes Beamtenstreikverbot einführen, das eben nur für Personen im Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit gilt? Freilich ist das Streikverbot ein wesentlicher Bestandteil des in sich austarierten Gefüges von Beamtenrechten und -pflichten. So fürchtet man eine „Überprivilegierung“ der Staatsdiener, wenn bei voller Alimentation „hemmungslos“ gestreikt werden könnte. Tatsächlich wäre es auch politisch schwer vermittelbar, wenn Beamte neben all ihren Vorzügen nun auch streiken dürften. Ganz so einfach ist es aber nicht.
Die Sorgen sind unnötig. Aus vielerlei Gründen. Wer Uferlosigkeit fürchtet, dem sei entgegenzuhalten, dass vom Streikrecht grundsätzlich nur punktuell und mit Augenmaß Gebrauch gemacht wird. Demokratie und Gemeinwohl könnten das gut aushalten. Immerhin gilt auch beim Streik der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Ferner lässt sich kaum rechtfertigen, wieso Tarifbeschäftigte und Beamte im selben Klassenzimmer oder derselben Behörde nicht in gleicher Weise für ihre Arbeitsbedingungen streiken dürfen. Bislang haben Beamte nur die Möglichkeit, vor Gericht zu ziehen, wenn sie mit ihrer Besoldung unzufrieden sind. Der Weg ist steinig. Bis eine Entscheidung ergeht, vergehen Jahre.
Warum also nicht eine neue Balance herstellen zwischen Beamtenrechten und -pflichten – eine Balance, die zeitgemäßer und europarechtskonform ist? Im Übrigen: Ein funktionsbezogenes Beamtenstreikverbot entspräche der deutschen Grundrechtsdogmatik viel eher als das statusbezogene Verbot. Bekanntlich bedarf es bei Eingriffen in ein Grundrecht, hier Art. 9 Abs. 3 GG, eines legitimen Zwecks und einer sachlichen Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Eingriff in das Streikrecht nach Art. 9 Abs. 3 GG viel besser funktions- als statusbezogen rechtfertigen. So verstehen im Übrigen auch die meisten europäischen Nachbarstaaten das Recht auf Streik.
Die Konsequenzen eines Beamtenstreikrechts
Was wären die Konsequenzen, wenn wir hierzulande ein Beamtenstreikrecht nach Maßgabe der EMRK hätten? Der Beamtenbund ist ängstlich. Aus Furcht, es könne einen Beamten zweiter Klasse geben, will man vom Streikrecht lieber gar nichts wissen. Auch der Innenminister de Maizière lehnt das Streikrecht für Beamte ab. Rosinenpickerei will er nicht. Tatsächlich kann von einem solchen Szenario keine Rede sein. Zum einen droht kein uferloser Streikgebrauch. Hier könnte der Gesetzgeber durch einfache Regelungen, wie man sie im Bereich der Daseinsvorsoge kennt, Grenzen setzen.
Und schließlich kann der Staat selbst entscheiden, ob er Lehrer verbeamten will. Auch diese Konsequenz wäre hinzunehmen. Der Blick in die Schweiz zeigt, dass Gemeinwohl und Demokratie nicht leiden, wenn nur Personen im Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit – also Soldaten oder Polizisten – verbeamtet werden.
Etwas Versöhnliches zum Schluss
Inoffiziell heißt es schon lange, dass das Streikverbot für Beamte überholungsbedürftig sei. Nun besteht die Gelegenheit, etwas zu ändern. Aber auch dann, wenn sich das Bundesverfassungsgericht gegen das Beamtenstreikverbot entscheidet, ist eines deutlich geworden. Europarechtliche Vorgaben lassen sich nicht ohne weiteres ignorieren, auch nicht in Karlsruhe. Wenn nicht jetzt, so dürfte doch allmählich mit einer größeren Kohärenz im europäischen Grundrechtsgefüge zu rechnen sein. Ferner zeigen die Verfassungsbeschwerden, wie europarechtliche Einflüsse etwas frischen Wind in das nationale Recht bringen können. Und frischer Wind schadet nicht.