28. Februar 2014

Marten Breuer

Streikverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht: Auf dem Weg zur supranationalen EMRK?

Beamte dürfen nur noch für eine Übergangszeit generell vom Streikrecht ausgeschlossen werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 27.02.2014 unter Berufung auf die EMRK und die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschieden (Az. 2 C 1.13). Damit wird eine über hundertjährige Tradition in Deutschland gekippt.

Doch damit nicht genug: Was vor allem aufhorchen lässt an diesem Urteil, ist sein Rechtsfolgenausspruch. Auch wenn bislang nur die Pressemitteilung vorliegt, wird doch deutlich, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil einen Gesetzgebungsauftrag an die Adresse der Legislative formuliert und die bestehende Rechtslage nur für eine Übergangszeit hinnimmt. Man fragt sich verwundert: das Bundesverwaltungsgericht? Ist nicht allein das Bundesverfassungsgericht der Gesprächspartner „auf Augenhöhe“ des Gesetzgebers?

Das Urteil aus Leipzig dokumentiert einen Bedeutungsverlust des Bundesverfassungsgerichts, der den Richtern in Karlsruhe alles andere als gleichgültig sein dürfte. Sie sind – aus Gründen, die im Einzelnen noch erläutert werden müssen – im konkreten Fall die eigentlichen Verlierer im institutionellen Dreiecksverhältnis zwischen Leipzig, Karlsruhe und Straßburg.

Kein generelles Streikverbot für Beamte

Doch zunächst zum Gegenstand des Verfahrens. Das Streikverbot für Beamte galt bis dato als ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG, gespeist aus der Treuepflicht des Beamten einerseits und aus Alimentations- und Lebenszeitprinzip andererseits. Infolgedessen war es statusbezogen, fragte also nicht danach, ob der Beamte hoheitliche Tätigkeit im engeren Sinne ausübt oder nicht.  Eine einfachrechtliche „Absicherung“ des Streikverbots gab und gibt es nicht. Vielmehr galt das Streikverbot verfassungsunmittelbar – ein Gesichtspunkt, der für die Behandlung dieses Falles noch wesentliche Bedeutung erlangen wird.

Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert in ihrem Art. 11 kein explizites Streikrecht, wohl aber die Koalitionsfreiheit. Während der EGMR in seiner früheren Rechtsprechung das Streikrecht für Staatsbedienstete noch als nicht von Art. 11 EMRK gesondert geschützt ansah, rückte er in zwei türkischen Fällen von dieser Sichtweise ab. Der Schutzbereich des Art. 11 EMRK sei sehr wohl eröffnet. Stattdessen verlagerte der EGMR den Schwerpunkt nunmehr auf die Rechtfertigungsebene, also zu der Frage, ob die Einschränkung der Koalitionsfreiheit im Sinne des Art. 11 Abs. 2 EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sei. Davon abgesehen lässt Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK für drei Personengruppen pauschale Einschränkungsmöglichkeiten zu: nämlich für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der „Staatsverwaltung“ – so jedenfalls die  (nichtamtliche!) deutsche Übersetzung.

In den authentischen Sprachen der EMRK ist hier von „civil servants“ bzw. von „fonctionnaires“ die Rede. Um diesen Begriff näher zu bestimmen, nahm der EGMR Anleihen beim Unionsrecht und der Rechtsprechung des EuGH zur Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach dem heutigen Art. 45 Abs. 4 AEUV. Spätestens seit dem EuGH-Fall Lawrie-Blum wissen wir aber, dass Lehrer nicht zur „öffentlichen Verwaltung“ im Sinne dieser Norm zählen, da sie keine Hoheitsgewalt im engeren Sinne ausüben. Das Ergebnis der EGMR-Rechtsprechung ist daher, dass ein pauschales Streikverbot nur in Fällen zulässig ist, in denen ein Beamter Hoheitsgewalt im eigentlichen Sinne ausübt. Das Kriterium ist funktionsbezogen, nicht statusbezogen. Die bisherige, auf Art. 33 Abs. 5 GG bezogene Differenzierung wird dem ersichtlich nicht gerecht.

Wie haben die Instanzgerichte auf diesen Konflikt zwischen deutscher (Verfassungs-)Rechtslage und EMRK reagiert? Während das VG Kassel auf die Rechtsprechungslinie des EGMR einschwenkte, äußerte das OVG Lüneburg Zweifel an der Gleichsetzung des Begriffs „fonctionnaire“ mit „Beamter“. Die Rechtsprechung des EGMR könne auch so verstanden werden, dass ein generelles Streikverbot für sämtliche „Angestellten im öffentlichen Dienst“ konventionswidrig sei, ein derartiges Streikverbot existiere in Deutschland jedoch nicht. Selbst bei Annahme eines Konventionsverstoßes meinte das OVG, dass das Streikverbot für deutsche Beamte ein tragender Bestandteil des ausbalancierten Systems des Berufsbeamtentums mit den gegenseitigen Rechten und Pflichten der Beamten und ihrer Dienstherrn sei und daher einen tragenden Verfassungsgrundsatz darstelle, der nur vom Verfassungsgesetzgeber geändert werden könne.

Am weitesten ging das OVG Nordrhein-Westfalen, die Vorinstanz des jetzigen BVerwG-Urteils. Es berief sich auf den einfachrechtlichen Rang der EMRK, die folglich am Maßstab des Grundgesetzes zu messen sei. Unter Wiedergabe wesentlicher Formulierungen der Görgülü-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betonte das OVG das „letzte Wort“ der deutschen Verfassung als Ausdruck der Souveränität Deutschlands. Die Möglichkeit einer konventionskonformen Auslegungen des Grundgesetzes selbst wurde vom OVG mit dem Argument verworfen, diese Möglichkeit ende dort, wo sie „nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar“ erscheine, insbesondere dann, wenn hierdurch die „verfassungsrechtliche Kernstruktur in Frage gestellt würde“.

Vor dem Hintergrund dieser überwiegend ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung muss es umso mehr erstaunen, wenn das Bundesverwaltungsgericht – es sei noch einmal betont: nach den bisher vorliegenden Informationen der Pressemitteilung – den Konventionsverstoß der deutschen Rechtslage relativ schnörkellos einräumt. Das ist noch viel bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass es hier um eine zur Rechtslage in der Türkei ergangene Rechtsprechung des EGMR geht, dass also die Bundesrepublik Deutschland nicht im strengen Sinne an die Rechtsprechung des EGMR gebunden war (Art. 46 Abs. 1 EMRK), sondern lediglich die Dimension der sog. „Orientierungswirkung“ der EGMR-Rechtsprechung in Rede stand.

Dass das Bundesverwaltungsgericht hier nicht von den Relativierungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die die Görgülü-Entscheidung den Fachgerichten bietet (Stichworte: „wertende Berücksichtigung“ der EGMR-Rechtsprechung; „Einpassen“ dieser Rechtsprechung in „ausbalancierte Teilsysteme des innerstaatlichen Rechts“), ist aus Konventionssicht ausdrücklich zu begrüßen.

Zugleich macht dieser Fall deutlich, dass die Bundesrepublik allen Grund hat, das neue Protokoll Nr. 16 zu ratifizieren: Dieses führt einen neuen Vorlagemechanismus nationaler Höchstgerichte zum EGMR ein, in Anlehnung an das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV. Daran, dass das generelle Streikverbot für Beamte im statusrechtlichen Sinne tatsächlich gegen die EMRK verstößt, konnte man angesichts der bisherigen OVG-Rechtsprechung und mehrerer Stimmen aus dem deutschen Schrifttum durchaus zweifeln. Das Bundesverwaltungsgericht hatte jedoch nach derzeitigem Stand schlicht keine Möglichkeit, den EGMR direkt mit dieser Auslegungsfrage zu befassen. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, einen Konventionsverstoß gewissermaßen sehenden Auges in Kauf zu nehmen, um dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, das Verfahren bis nach Straßburg zu tragen, damit der EGMR selbst zu dieser Frage Stellung nehmen kann. Diese Möglichkeit wird der EGMR nach dem BVerwG-Urteil jedenfalls in diesem Fall wohl nicht mehr erhalten.

Auswirkungen auf das institutionelle Gefüge

Wie bereits angedeutet, elektrisiert das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vor allem durch seinen Rechtsfolgenausspruch. Hierzu zunächst die Pressemitteilung:

Damit enthält die deutsche Rechtsordnung derzeit einen inhaltlichen Widerspruch in Bezug auf das Recht auf Tarifverhandlungen und das Streikrecht derjenigen Beamten, die außerhalb der hoheitlichen Staatsverwaltung tätig sind. Zur Auflösung dieser Kollisionslage zwischen deutschem Verfassungsrecht und der EMRK ist der Bundesgesetzgeber berufen, der nach Art. 33 Abs. 5, Art. 74 Nr. 27 GG das Statusrecht der Beamten zu regeln und fortzuentwickeln hat. Hierfür stehen ihm voraussichtlich verschiedene Möglichkeiten offen. So könnte er etwa die Bereiche der hoheitlichen Staatsverwaltung, für die ein generelles Streikverbot gilt, bestimmen und für die anderen Bereiche der öffentlichen Verwaltung die einseitige Regelungsbefugnis der Dienstherren zugunsten einer erweiterten Beteiligung der Berufsverbände der Beamten einschränken. Die Zuerkennung eines Streikrechts für die in diesen Bereichen tätigen Beamten würde einen Bedarf an Änderungen anderer, den Beamten günstiger Regelungen, etwa im Besoldungsrecht, nach sich ziehen.

Für die Übergangszeit bis zu einer bundesgesetzlichen Regelung verbleibt es bei der Geltung des verfassungsunmittelbaren Streikverbots. Hierfür ist von Bedeutung, dass den Tarifabschlüssen für die Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes aufgrund des Alimentationsgrundsatzes nach Art. 33 Abs. 5 GG maßgebende Bedeutung für die Beamtenbesoldung zukommt. Die Besoldungsgesetzgeber im Bund und in den Ländern sind verfassungsrechtlich gehindert, die Beamtenbesoldung von der Einkommensentwicklung, die in den Tarifabschlüssen zum Ausdruck kommt, abzukoppeln.

Das sind Aussagen, die man vom Bundesverwaltungsgericht so eigentlich nicht erwartet. Das Gericht formuliert hier nichts anderes als einen Auftrag an die Adresse der Legislative, unter Hinnahme der bisherigen (Verfassungs‑)Rechtslage für eine Übergangszeit. Ob diese Übergangszeit näher bestimmt wird, ob dem Bundesgesetzgeber also eine Frist gesetzt wird, geht aus der Pressemitteilung nicht hervor. Doch auch ohne eine solche Fristsetzung ist das Verhalten des Bundesverwaltungsgerichts mehr als bemerkenswert. Als direkter Dialogpartner der Ersten Gewalt fungierte bis dato an sich nur das Bundesverfassungsgericht.

Bemerkenswert ist ferner, dass das Bundesverwaltungsgericht der EMRK in der Sache Verfassungsrang, wenn nicht gar eine Art Überverfassungsrang einräumt. In der Pressemitteilung ist ausdrücklich davon die Rede, das generelle statusbezogene Streikverbot genieße „als hergebrachter Grundsatz im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG Verfassungsrang“. Wenn vor diesem Hintergrund eine zur türkischen Rechtslage ergangene EGMR-Rechtsprechung dazu führt, die bisherige Auslegung des Art. 33 Abs. 5 GG zu revidieren, so bleibt vom „letzten Wort“ der deutschen Verfassung nicht mehr viel übrig. Lediglich für die bereits angesprochene Übergangzeit behält die bisherige Verfassungsrechtslage Bestand. Einen echten Vorrang der EMRK vor der Verfassung, analog zum Verhältnis deutsches Verfassungsrecht-Unionsrecht, gibt es somit derzeit (noch?!) nicht. Der Unterschied ist dennoch eher ein gradueller, wenn man bedenkt, dass der (Verfassungs‑?!)Gesetzgeber vom Bundesverwaltungsgericht verpflichtet wird, die deutsche Rechtslage den EMRK-Standards anzupassen.

Eine Frage sticht besonders ins Auge: Warum hat das Bundesverwaltungsgericht selbst entschieden? Warum hat es die Sache nicht dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, damit dieses die bisherige Auslegung des Art. 33 Abs. 5 GG revidieren kann? In der Pressemitteilung finden sich dazu keine Hinweise. Dennoch kann man zumindest begründete Vermutungen anstellen: Wie eingangs ausgeführt, war das Streikverbot für Beamte nicht einfachrechtlich festgeschrieben, sondern wurde unmittelbar der Verfassung entnommen. Von daher fehlte dem Bundesverwaltungsgericht (vermutlich) schlicht der Vorlagegegenstand, um eine konkrete Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht richten zu können. Eine Vorlage allein zum Zwecke der Verfassungsauslegung gibt es bisher nicht.

Durch diese Situation kommt es zu Verschiebungen im institutionellen Gefüge zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit. Durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist dem Bundesverfassungsgericht sein „letztes Wort“ zur Verfassungsauslegung im konkreten Fall aller Voraussicht nach genommen. Da das Bundesverwaltungsgericht die Geldbuße der Klägerin von 1.500 € auf 300 € reduziert hat, dürfte kaum noch ein Interesse bestehen, gegen die verbliebene Beschwer das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Der Staat kann aus strukturellen Gründen nicht seinerseits das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Auf diese Weise ist das Bundesverfassungsgericht im Dreiecksverhältnis Leipzig-Straßburg-Karlsruhe somit „ausgebootet“ worden. Das erinnert in gewisser Weise an die Strategie des Unionsrechts, welches den einzelnen Richter in die Pflicht nimmt, widersprechendes innerstaatliches Gesetzesrecht ohne die vorherige Einschaltung des nationalen Verfassungsgerichts unangewendet zu lassen. Ob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einer Art „Supranationalisierung“ der EMRK jedenfalls für die deutsche Rechtsordnung Vorschub leisten wird, kann mangels Vorliegens der schriftlichen Urteilsbegründung einstweilen nicht abschließend beurteilt werden. Man darf auf die Urteilsgründe gespannt sein.

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