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Warum Vertrauen in die Neutralität der Justiz ein schützenswertes Verfassungsgut ist

Gibt es Allgemeininteressen mit Verfassungsrang, die es rechtfertigen, Richterinnen das Tragen eines Hidschab zu untersagen? Anders als Aqilah Sandhu glaubt, lautet die Antwort Ja. Wer nicht bereit ist, auf auffallende Symbole gruppenbezogener Identität zu verzichten, kann nicht ein Richteramt beanspruchen. Dies gilt auch, wenn Anwärter ernsthaft und glaubwürdig versichern, ihre Zugehörigkeiten bei konkreten Entscheidungen ausblenden zu können. Zu der verantwortungsvollen Richterrolle gehören nicht nur die fachliche Ausbildung und die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, sondern auch Verständnis für die Funktionsbedingungen, die für das System Justiz von zentraler Bedeutung sind.

Der »Anschein der Neutralität« als schützenswertes Verfassungsgut?

Seit dem (noch nicht rechtskräftigen) Augsburger Richterspruch vom Juni 2016 haben Kopftuchverbote wieder Konjunktur. In dem von mir angestrengten Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Augsburg ging und geht es zwar nicht um das Amt des Berufsrichters, sondern um unzumutbare Beschränkungen bereits in meiner Referendarausbildung. Unabhängig von der fehlenden rechtlichen Grundlage, erachte ich ein Kopftuchverbot in der Justizausbildung als einschneidende Verletzung multipler Grundrechte, insbesondere der Ausbildungsfreiheit und der Chancengleichheit, aber auch der Glaubensfreiheit. Dennoch hat das Urteil über die Landesgrenzen hinweg erneut einen Gesetzgebungsaktionismus ausgelöst, diesmal für alle möglichen Bereiche in der Justiz.

On the Slippery Slope to a ,People’s Court‘

Writes Matej Avbelj in High time for popular constitutionalism!, ‘The majority in our societies seems to be increasingly disconnected with the liberal values that especially the legal academia, but also the ruling political class – at least on a declaratory level – have taken for granted…’ Living as I do in the country in which one sees an increasing distaste for the European Convention of Human Rights and regular media criticism of the ‘unelected judges’ in Strasbourg – and that despite the fact that the judges of the Court are, in fact, elected from a slate of three by the Parliamentary Assembly of the Council of Europe – I cannot help wondering whether the disconnect is anything very new.

Über die Selbstrechtfertigung unabhängiger Institutionen

In der letzten Woche hörte ich auf einer Tagung den Vortrag eines höheren Beamten der EZB über die internen Entscheidungsprozeduren im Governing Council. Weil eine Publikation nicht abgesprochen ist, will ich meinen Bericht anonymisieren. Der Vortrag war affirmativ. Der Redner wies darauf hin, dass der Council Entscheidungen treffen müsse, die nicht immer angenehm wären. Dies würde namentlich von akademischen Kritikern, die Idealmodellen nachhingen, oft nicht verstanden. Die Mitglieder des Rates seien unabhängig, sie diskutierten offen und sachlich miteinander. In den Beratungen zähle allein die Macht des Arguments, unwesentlich dagegen sei die nationale Herkunft der einzelnen Teilnehmer. Aus diesem Grund seien ... continue reading

Vom Recht, auf die Mehrdeutigkeit des Gesetzes vertrauen zu können

Der Gesetzgeber sagt, was das Gesetz ist. Sollte man meinen. Ist aber nicht so. Das Bundesverfassungsgericht hat heute einen Senatsbeschluss veröffentlicht, der in Berlin und anderenorts mal wieder für allerhand Zahnschmelzabrieb sorgen dürfte. Es geht um die Frage, ob der Gesetzgeber klarstellen darf, wie er seine eigenen Worte verstanden wissen will, wenn es in Praxis und Justiz Verwirrung um dieselben gibt. Das darf er nicht, so die Mehrheitsmeinung im Ersten Senat: Damit würde er die Rechtslage rückwirkend verändern und damit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, dass gilt, was gilt, rechtsstaatswidrig enttäuschen. Unklarheiten zu beseitigen sei allein Sache der Justiz: ... continue reading

Wen ich für rechtsradikal halte, den darf ich auch rechtsradikal nennen

„Ich habe nichts gegen Juden, viele meiner besten Freunde sind Juden.“ Wer diese Worte spricht, gibt in neun von zehn Fällen gleich als nächstes etwas knallhart Antisemitisches von sich. Meistens kommt dann im nächsten Satz irgendwas über die amerikanische Ostküste, über die Nazihaftigkeit der israelischen Besatzungspolitik in Palästina, über das jüdische Talent im Umgang mit Geld oder dergleichen. Und zum Abschluss, mit einem gewissen triumphierenden Bibber in der Stimme: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“ Es gehört zu den Erstaunlichkeiten des Phänomens Antisemitismus, wie viele Antisemiten der festen und lauteren Überzeugung sind, dass sie alles sind, nur keine ... continue reading

Deals im Strafprozess: Etikettenschwindel im Namen der Effizienz

Geständnis gegen Strafnachlass: Diese Art von Absprache, »Deal« genannt, gibt es im Strafverfahren schon seit Jahrzehnten. Seit 2009 ist er gesetzlich geregelt. Der Gesetzgeber reagierte damit auf die bereits 2005 geäußerte Bitte des Bundesgerichtshofs (Az. GSSt 1/04), dem bei seinen Versuchen, selbst für rechtliche Leitplanken zu sorgen, mulmig geworden war. Das Ganze schien dem Bundesgerichtshof so grundlegend, dass es nicht einzelne Richter, sondern der Bundestag regeln sollte. Nun hat das Bundesverfassungsgericht über die gesetzliche Regelung zu entscheiden (Az. 2 BvR 2628/10; 2 BvR 2883/10; 2 BvR 2155/11). Morgen verhandelt der Zweite Senat darüber. Im Mittelpunkt stehen dabei die Grundrechte des ... continue reading

Rückkehr in ein kaltes Land: Ursula Krechels „Landgericht“

Viel besprochen wurde in diesem Herbst Ursula Krechels Roman „Landgericht„, mit dem die Autorin auch den Deutschen Buchpreis gewann. Die Geschichte des Mainzer Landgerichtsdirektors Dr. Richard Kornitzer ist die Geschichte eines jüdischen Emigranten, der 1948 aus dem kubanischen Exil in die Bundesrepublik zurückkehrt – und doch nie ankommt. Kornitzer, 1903 in Breslau geboren und 1933 aus dem Berliner Justizdienst entlassen, kämpft als „Displaced Person“ um die Wiederherstellung seiner beruflichen Identität. Doch nicht nur der Kampf um materielle Wiedergutmachung wird zum Kolhaas’schen Drama. Die Familie ist zerbrochen, die von den Eltern 1939 nach England geschickten Kinder sind Kornitzer und seiner Frau ... continue reading