Wie erwartet hat der Bundestag die Streichung des strafrechtlichen Werbeverbots für den Schwangerschaftsabbruch beschlossen. Als gemeinsames Vorzeigeprojekt der Ampelkoalition sollte die Streichung des § 219a StGB zu Beginn der Legislaturperiode rechtspolitischen Gleichklang in Fragen des Lebensschutzes suggerieren und einem Informationsdefizit schwangerer Frauen abhelfen. Inwieweit es ein solches gegenwärtig tatsächlich gibt, und ob für die Ärzteschaft Rechtssicherheit nicht auch auf anderem legislativem Weg hätte gewährleistet werden können, mag nach dem Federstrich des Gesetzgebers offenbleiben. Über die jetzt beschlossene Verortung grob anstößiger Werbung für Schwangerschaftsabbrüche im Heilmittelwerbegesetz – zwischen medizinischen Heilbehandlungen und kosmetischen Schönheitsoperationen – kann man rechtspolitisch diskutieren. Doch dürfte die Einstufung eines strafrechtlichen Werbeverbots als integraler Bestandteil eines grundgesetzlich garantierten Beratungskonzepts einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der aktuell erfolgten Novellierung kaum standhalten.
Rechtlich interessant ist daher jetzt allein, wie es nach der Streichung des § 219a StGB mit dem Recht des Schwangerschaftsabbruchs weitergeht.((Ausführlich Leisner-Egensperger, ZfL 31 (2022), 101 ff., im Erscheinen.)) Denn dass inzwischen nicht nur gegenüber der Opposition, sondern auch innerhalb der Koalition die Fronten verhärtet sind, hat die erste Lesung im aktuellen Gesetzgebungsverfahren gezeigt: Während der Bundesjustizminister die Beratungslösung der §§ 218 ff. StGB als historischen Kompromiss lobte, an dem durch die Abschaffung des Werbeverbots nicht gerüttelt werden solle, ist diese für das Bundesfamilienministerium nur ein erster Schritt. Ihm sollen weitere folgen, insbesondere die Einlösung eines Versprechens aus dem Koalitionsvertrag: die Einsetzung einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung“, „die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches“ „prüfen wird“ (Koalitionsvertrag, S. 116).
Das Recht des Schwangerschaftsabbruchs als rechtspolitisches Pulverfass
Welche politische Brisanz eine Novellierung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs aufweist, zeigt bereits jetzt die Diskussion um das bevorstehende Ende von Roe versus Wade nach dem kürzlich erfolgten Leak: Immer noch weist das Recht des Schwangerschaftsabbruchs das Potenzial auf, Gesellschaften zu spalten. Wer aber hat ein Interesse daran, nachdem die Proteste der Coronaleugner vorübergehend verhallt sind, nun laufend mit Bildern von Märschen der Pro-life oder Pro-choice Bewegung konfrontiert zu werden? Für die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen, die uns in näherer Zeit bevorstehen, ist eine Gesellschaft, die in grundlegenden Fragen auf welchen Kompromiss auch immer geeint ist, eine unabdingbare Voraussetzung. Im Rückblick lässt sich daher der Wert der schlichtenden Funktion, die das BVerfG vor nahezu dreißig Jahren zu erfüllen vermochte, kaum überschätzen.
Die drei Säulen des bundesverfassungsgerichtlichen Schutzkonzepts
Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird eine Novellierung an der Bindungswirkung der drei Entscheidungen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch aus den Jahren 1975, 1993 und 1998 nicht vorbeikommen. Sie mögen aus dem letzten Jahrhundert stammen und vorwiegend von alten weißen Männern verfasst worden sein. Doch entfalten ihre tragenden Gründe nach Art. 93 GG, § 31 BVerfGG Bindungswirkung für alle Gerichte und Behörden. Damit stecken sie den verfassungsrechtlichen Rahmen für legislative Novellierungen ab. Grund genug, das damals formulierte Schutzpflichtkonzept des BVerfG genauer unter die Lupe zu nehmen. Es fußt auf drei Säulen, von denen in der derzeitigen rechtspolitischen Diskussion die erste – die grundsätzliche Pönalisierung des Abbruchs – Gegenstand heftiger Kontroversen ist, die zweite – die Beratung der Schwangeren – seit längerem und zurecht ein Schattendasein fristet, und die dritte – präventive Maßnahmen des Lebensschutzes – zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Die wichtigste Aufgabe einer Kommission zur Prüfung möglicher Novellierungen des Schwangerschaftsabbruchs wird es daher sein, die Pönalisierungsdiskussion zu versachlichen, das Beratungsverfahren nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz am Maßstab des Untermaßverbots zu evaluieren und vor allem, die vom BVerfG aufgegebene Verpflichtung des Staates zu erfüllen, einer schwangeren Frau die Entscheidung für das Austragen des Kindes zu erleichtern.
Die festgefahrene Pönalisierungsdiskussion
Zu einer emotional geführten rechtspolitischen Diskussion ist in neuerer Zeit die Frage avanciert, ob das Strafrecht der richtige Standort dafür ist, den Konflikt zwischen der Austragungsverantwortung der Frau und ihrem Selbstbestimmungsrecht zu lösen. Hierzu hatte das BVerfG klargestellt, das Strafrecht sei „regelmäßig der Ort, das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die darin enthaltene grundsätzliche Rechtspflicht der Frau zum Austragen des Kindes gesetzlich zu verankern“.((BVerfGE 88, 208 (258).)) Es hatte allerdings auch eine Tür für ein Absehen von einer Strafdrohung „in begrenztem Umfang“ offengelassen, wenn „verfassungsrechtlich ausreichende Schutzmaßnahmen anderer Art“ vorgesehen würden.((BVerfG a.a.O.)) Die vom BVerfG aufgeworfene, bei einer Novellierung logisch vorrangig zu beantwortende Frage, auf welchem rechtstechnischen Wege es möglich sein soll, von einer Strafdrohung „in begrenztem Umfang“ abzusehen, ist bislang ungelöst. Dafür wurden rechtspolitische Argumente für eine Regelung außerhalb des Strafrechts gesammelt – von einer strikten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bis zum Kampf gegen eine Kultur des Misstrauens gegenüber betroffenen Frauen und beteiligter Ärzteschaft. Studien zur spezifisch strafrechtliche Steuerungswirkung auf das Abbruchverhalten haben sich bislang als wenig aussagekräftig herausgestellt.((Zusf. Gropp/Wörner, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. IV, 4. Aufl. 2021, Vorb. zu § 218 Rn. 89 mwN.)) Unergiebig sind in diesem Zusammenhang auch rechtsvergleichende Hinweise, da die konkrete Ausgestaltung einer Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und deren Einbettung in das jeweilige Lebensschutzkonzept eine zu hohe Variationsbreite aufweisen, als dass sie die Chance eines Makrovergleichs eröffnen würden.((Vgl. Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 3, 2000, S. 3, 5 f.)) Unter rechtssoziologischem Blickwinkel lässt sich immerhin feststellen, dass die Straftatbestände des StGB gerade in den letzten Jahren zu einem Kommunikationsinstrument der Politik geworden sind, zu einem Weg, positiv-präventive Botschaften an die Rechtsgemeinschaft zu senden.((Kubiciel, medstra 2022, 1 (4).)) Wenn aber der Gesetzgeber Straftatbestände novelliert, um dadurch Gefahren für Rechte weit geringerer Ranghöhe zu bekämpfen, indem er etwa Vorschriften des Tierschutzgesetzes in das StGB verschiebt,((So Koalitionsvertrag, S. 35; dazu auch Künast, ZRP 2021, 238 (238 ff.).)) so lässt sich jedenfalls der Anschein einer Degradierung des Lebensschutzes – aus der Perspektive der Schwangeren wie auch der Ärzteschaft – nicht von vorneherein in Abrede stellen. Für die Effektivität des staatlichen Schutzkonzepts birgt eine Entpönalisierung daher zumindest ein gewisses Risiko.((Kubiciel, medstra 2022, 1 (4).)) Zu einer für das Untermaßverbot relevanten Gefahr würde Entpönalisierung jetzt vor allem dadurch, dass die Kirchen angesichts nicht zuletzt ihres Organisationsverschuldens in Missbrauchsfällen((Gercke/Stirner/Reckmann/Nosthoff-Horstmann, Gutachten vom 18.3.2021, S. 715; vgl. zu diesem Problemkreis auch Eicholt, NJOZ 2010, 1859.)) ihre Funktion als moralische Instanz verloren haben – am deutlichsten in Bezug auf Kinder, und damit auch mit Blick auf den pränatalen Lebensschutz. So ist es zur Aufgabe des Strafrechts geworden, die lebensschützende Funktion der Religionsgemeinschaften gesellschaftspolitisch zu ersetzen.((Vgl. Walter, ZfL 2018, 26 (26 ff.); krit. zur Ausdehnung des Strafrechts Hamm, NJW 2016, 1537 (1537 ff.).)) Dies verleiht heute den pönalisierungsbezogenen Aussagen des BVerfG aus dem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch eine besondere Aktualität. Es bedürfte daher gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse dazu, dass das Strafrecht keinen Einfluss auf das Abbruchverhalten hat, damit es nach den Maßstäben des BVerfG verfassungsrechtlich zulässig wäre, auf seinen Einsatz zu verzichten.
Das Beratungsdilemma
Ob allerdings ähnliche Beharrungskräfte auch zugunsten des eingeführten Beratungskonzepts wirken, darf bezweifelt werden. Denn schon bei Erlass des zweiten Urteils zum Schwangerschaftsabbruch war bekannt, dass Frauen, die eine Konfliktberatung in Anspruch nehmen, nur in seltenen Ausnahmefällen zur Fortsetzung der Schwangerschaft bewegt werden.((Kühl, in: Lackner/Kühl (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2018, Vorb. zu den §§ 218-219b Rn. 12.)) Heute haben der höhere Bildungsgrad und das gestiegene Selbstbewusstsein moderner Frauen ihre Beratungsresistenz noch erhöht. Die Prozeduralisierung des Lebensschutzes((Vertiefend Ströhnlein, Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts, 2021, insbes. S. 32 ff. und 177 ff.)) muss – jedenfalls für den Bereich des Schwangerschaftsabbruchs – als weitgehend gescheitert angesehen werden.((Merkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, § 218a Rn. 51.)) Zugespitzt formuliert: Für den Schutz des ungeborenen Lebens bringt Beratung wenig, den betroffenen Frauen kann die Pflichtigkeit ihrer Inanspruchnahme als Akt paternalistischer Bevormundung erscheinen. Unter dem Gesichtspunkt des Untermaßverbots mag es daher offenbleiben, ob eine – nicht in jeder Hinsicht offene – Beratung nicht einen Widerspruch in sich darstellt, wie im Einzelnen eine am Lebensschutz orientierte Beratung ausgestaltet sein muss und wie die staatliche Kontrolle der Beratungsstellen zu erfolgen hat.
Pränataler Lebensschutz
Neben Pönalisierung und Beratung bilden staatliche Maßnahmen zur Erleichterung der Entscheidung für das Austragen des Kindes die dritte Säule des pränatalen Lebensschutzes. In der Diskussion um das Recht des Schwangerschaftsabbruchs finden sie seit Jahrzehnten allerdings kaum Berücksichtigung. Die Einsetzung einer Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ist daher als Chance zu begreifen, dies grundlegend zu ändern und die Vorgaben des BVerfG endlich zu erfüllen.
Nach dem Grundgesetz ist der Staat dazu verpflichtet, einer ungewollt schwangeren Frau die Entscheidung für das Austragen des Kindes zu erleichtern und Faktoren entgegenzuwirken, die sie davon abbringen könnten.((BVerfGE 88, 203 (258).)) Verfassungsrechtlich berührt sich hier die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben mit dem Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 4 GG zugunsten der Mutterschaft. Danach ist die Gemeinschaft dazu verpflichtet, die im Zusammenhang von Schwangerschaft und Geburt entstehenden Belastungen weitgehend auszugleichen.((von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2020, Art. 6 Rn. 90.)) Unter systematisierendem Blickwinkel weisen Maßnahmen des pränatalen Lebensschutzes eine individuelle und eine kollektive Komponente auf, die das BVerfG beide in der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ausführlich gewürdigt hat.
Danach ist die staatliche Gewalt einerseits dazu verpflichtet, „Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, die der Mutter während und nach der Schwangerschaft erwachsen können.“ Erwähnt werden hier neben einer „bestehenden oder nach der Geburt des Kindes drohenden materiellen Notlage“ insbesondere „Nachteile, die einer Frau aus der Schwangerschaft für Ausbildung und Beruf erwachsen können“.((BVerfGE 88, 203 (258).)) Auf der anderen Seite sei „der Staat „gehalten, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu fördern, was auch auf den Schutz des ungeborenen Lebens zurückwirk(e)“.((BVerfGE 88, 203 (260).)) Dazu zählten „rechtliche und tatsächliche Maßnahmen, die ein Nebeneinander von Erziehungs- und Erwerbstätigkeit für beide Elternteile ebenso wie eine Rückkehr in eine Berufstätigkeit und einen beruflichen Aufstieg auch nach Zeiten der Kindererziehung ermöglich(t)en“.((BVerfG a.a.O.))
Zur individuellen Komponente des pränatalen Lebensschutzes hat das BVerfG in älteren Entscheidungen zu Art. 6 Abs. 4 GG zwar klargestellt, dass der Gesetzgeber nicht jede schwangerschaftsbedingte wirtschaftliche Belastung kompensieren müsse.((BVerfGE 60, 68 (74); BVerfG (K), NJW 1994, 785 (786).)) Denn Art. 6 Abs. 4 GG sei eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips, und dabei habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Jedenfalls aus heutiger Sicht entspricht diese zurückhaltende Judikatur aber nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein verfassungskonformes Recht des Schwangerschaftsabbruchs. Denn mit Blick auf die schwangere Frau erweist sich eine verfassungsrechtlich auferlegte Austragungspflicht als verfassungsrechtliches Problem. Sie passt nicht zu ihrem reproduktiven Selbstbestimmungsrecht, d.h. zu ihrer freien Entscheidung darüber, ob, wann und wie viele Kinder sie gebären will. Unter reproduktiver Selbstbestimmung in diesem Sinn ist etwas anderes zu verstehen als die besondere Konfliktlage einer ungewollt schwangeren Frau, wie sie durch das BVerfG in seinen bisherigen Judikaten zum Schwangerschaftsabbruch gewürdigt wurde. Denn für das BVerfG ist das Persönlichkeitsrecht einer schwangeren Frau in der Abbruchsituation wesentlich durch die besondere Situation der „Zweiheit in Einheit“ geprägt.((BVerfGE 88, 203 (253).)) Dies schließt es denklogisch aus, die Mutter als ungebundenes Gegenüber des nasciturus zu begreifen und damit ihr Persönlichkeitsrecht gegen dessen Leben in die Waagschale zu werfen. In der aktuellen Diskussion wird jedoch zunehmend in Frage gestellt, dass sich die prinzipielle Beschränkung des weiblichen Selbstbestimmungsrechts auf ein Verantwortungsmodell noch mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Frau in seiner gegenwärtigen dogmatischen Ausprägung vereinbaren lässt.
Für ein neues Verständnis der weiblichen Selbstbestimmung spricht, dass sich die entsprechende Judikatur in den letzten Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt hat – von ihren Anfängen im Bereich der informationellen Selbstbestimmung,((BVerfGE 65, 1; vgl. auch die Weiterentwicklung zum Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nach BVerfGE 143, 246; BVerfG, NJW 2021, 3033.)) über die sexuelle Selbstbestimmung, die auch das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität erfasst, bis hin zum Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben((BVerfGE 153, 182.)) nach Maßgabe des Willens des Grundrechtsträgers. Grundrechtsdogmatisch haben diese Entwicklungen ihren Ausgangspunkt im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und in dessen Verwurzelung in der Menschenwürdegarantie.((BVerfGE 80, 137 (154); 153, 182 (263).)) In der Folge hat der Siegeszug des Selbstbestimmungsrechts zu einer neuen Bewertung der individuellen Sicht auf die eigenen Rechtsgüter geführt. Dies zeigt sich etwa in der aktuellen Auslegung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das nach dem Ersten Senat inzwischen nicht nur einen Integritäts- sondern zugleich einen Selbstbestimmungsschutz gewährt. Davon ausgehend reicht die Wirkung des Selbstbestimmungsrechts weit in den Bereich der allgemeinen Grundrechtslehren hinein. So diskutieren wir darüber, ob für die Intensität eines Grundrechtseingriffs – etwa der Verpflichtung zur Corona-Schutzimpfung – das subjektive Empfinden des jeweiligen Grundrechtsträgers eine Rolle spielt – die Frage also, wie dieser eine Impfung wahrnimmt – nur als kleinen Pieks oder als Übergriff in seine Intimsphäre.
Ein Verstoß gegen den Wesensgehalt des Persönlichkeitsrechts der Frau i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG ist in einer auf die Zeit der Schwangerschaft beschränkten Austragungspflicht zwar nicht zu sehen. Denn immerhin setzt das Recht auf uneingeschränkte Selbstbestimmung über den eigenen Körper wieder bald nach der Geburt ein. Allerdings stellt die Austragungspflicht einen zwar befristeten, doch besonders intensiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau dar. Zu dessen Kompensation ist ihr daher ein gegen den Staat gerichteter Austragungsausgleichsanspruch zu gewähren. Dieser ist inhaltlich gerichtet auf all diejenigen Leistungen, zu denen der Staat kraft seiner Schutzpflicht für den nasciturus objektivrechtlich verpflichtet ist. Dieser Anspruch ist teilidentisch mit dem Anspruch jeder Mutter auf Schutz und Fürsorge nach Art. 6 Abs. 4 GG. Er geht über diesen jedoch insoweit hinaus, als er auf den Ausgleich sämtlicher wirtschaftlicher Belastungen gerichtet ist und nicht dem Vorbehalt des Möglichen((Dazu jetzt Munaretto, Der Vorbehalt des Möglichen, 2022.)) unterliegt, der die Förderung von Familien im allgemeinen begrenzt.((Überblick bei Leisner-Egensperger, in Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar, Art. 6 Abs. 1 GG (Stand 2020) Rn. 209 ff.)) Außerdem trifft der Austragungsausgleichsanspruch originär den Staat, also – anders als Art. 6 Abs. 4 GG dies mit dem Wort „Gemeinschaft“ eröffnet – nicht zugleich den Arbeitgeber.((Dazu BVerfGE 37, 121 (125 ff.); 109, 64 (87 f.).)) Dogmatische Anleihen zur Herleitung eines Austragungsausgleichsanspruchs lassen sich unter der Voraussetzung einer konkret nachgewiesenen Notlage im Recht der Enteignung finden, in der Rechtsfigur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung,((Vgl. BVerfGE 58, 137 (145, 147, 149 f.); 79, 174 (192); 83, 201 (212 f.); 100, 226 (244).)) vor allem aber im Aufopferungsanspruch. Für die konkrete Ausgestaltung mag man auch auf das Recht der pandemischen Entschädigungsansprüche verweisen.((§ 56 IfSG.)) Mit der Annahme eines Ausgleichsanspruchs als subjektiv-rechtlicher Kehrseite einer objektivrechtlichen Schutzpflicht läge das Recht des pränatalen Lebensschutzes im aktuellen Trend der Grundrechtsdogmatik. Denn auch in anderen Fällen wird ein subjektiv-öffentliches Recht als Entsprechung zum objektiven Recht verstanden, wenn etwa ein Recht auf schulische Bildung als Korrelat zur objektivrechtlichen Gewährleistung des staatlichen Schulsystems konstruiert wird.((BVerfG, NJW 2022, S. 167 (169 f.).))
Konkret trifft den Staat unter der Voraussetzung einer nachgewiesenen Notlage die verfassungsrechtliche Verpflichtung, sämtliche finanziellen und sonstigen Belastungen auszugleichen, die der Schwangeren durch Geburt und Mutterschaft erwachsen. In Abhängigkeit von der konkreten Lebenssituation der schwangeren Frau betrifft dies zugleich Ausbildung und Erwerbsaussichten. Denn ein zentraler Gesichtspunkt bei der Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch ist heute die finanzielle und berufliche Situation.((Drobnič, Zeitschrift für Soziologie 2021, S. 259 (263 f.); Guttmacher Institute, Abortion Worldwide 2017: Uneven Progress and Uneven Access, Report, S. 12 f.)) Einen weiteren abbruchrelevanten Faktor bilden unsichere oder schwierige Partnerschaften.((Drobnič, Zeitschrift für Soziologie 2021, S. 259 (263).)) Den Staat trifft daher zugleich die Verpflichtung, die konkrete Lebenssituation einer Mutter als Alleinerziehende zu erleichtern, insbesondere mit Angeboten zu einer leicht zugänglichen häuslichen Unterstützung bei der Säuglingspflege. Mit Blick auf den grundgesetzlichen Schutz der Familie sollten die staatlichen Maßnahmen in erster Linie darauf abzielen, die Schwangere dazu zu ermutigen, ihr Kind nach der Geburt selbst großzuziehen. Zum Inhalt der staatlichen Schutzpflicht gehört es aber auch, einer Mutter konkrete Möglichkeiten aufzuzeigen, ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben oder einer Pflegefamilie anzuvertrauen. Manche dieser Maßnahmen gehören zwar schon jetzt zum Kanon eines Beratungsgesprächs.((Jedenfalls die „rechtlichen und psychologischen Gesichtspunkte“ einer Adoption, vgl. § 2 SchKG Abs. 2 Nr. 8; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Schwangerschaftsberatung § 218, 2019, S. 25.)) Doch liegt ihre Aktivierung bislang im Feld der Schwangeren, die dann, wenn sie eine Beratung in Anspruch nimmt, regelmäßig ohnehin schon zum Abbruch entschlossen ist. Was fehlt, ist eine öffentlichkeitswirksame Darstellung der staatlichen Bemühungen darum, die Entscheidung für das Austragen eines Kindes zu fördern. Damit erscheint vielen Frauen die Hürde dafür, ein Kind auszutragen, sehr hoch, während der Abbruch einer Schwangerschaft als ein vergleichsweise unkomplizierter, insbesondere bald abgeschlossener Vorgang eingestuft wird.
Neben der Einführung derart konkreter, an die einzelne Frau gerichteter finanzieller Anreize muss verfassungsrechtlich zwingend aber auch der Adressatenkreis familienpolitischer Fördermaßnahmen erweitert werden. Nach dem BVerfG „ist der Staat gehalten, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu fördern, was auch auf den Schutz des ungeborenen Lebens zurückwirkt“.((BVerfGE 88, 203 (260).)) Nun stehen geborene Kinder schon seit längerem im Fokus der Familienpolitik. Nach den Vorstellungen der Ampelkoalition sollen sie demnächst mit ihren Rechten explizit im Grundgesetz erwähnt werden – in einer neuen verfassungsrechtlichen Sichtbarkeit.((Koalitionsvertrag, S. 77.)) Dagegen verabsäumt es der Staat seit Jahrzehnten, die vom BVerfG ja vorausgesetzte Rückwirkung der Förderung von Kindern auf den Schutz des ungeborenen Lebens aktiv zu unterstützen. Symptomatisch für dieses Phänomen ist die Diskussion um das Kindeswohl, Leitlinie der Eltern-Kind-Beziehung, aber auch Interpretationsmaxime für sämtliche Grundrechte, die Kinder betreffen. Der Begriff „Kindeswohl“ soll demnächst explizit im Grundgesetz verankert werden – auch als rechtspolitisches Signal für eine kinderfreundliche Politik.((Vgl. BT-Drs. 19/10552; BT-Drs. 19/28138; BT-Drs. 19/28440.)) Bezogen wird das Kindeswohl nach herrschender Ansicht aber nur auf geborene Kinder. Vor der Geburt eines Kindes soll es dagegen eine Gefährdung des Kindeswohls, die das staatliche Wächteramt auf den Plan riefe, per definitionem nicht geben.((So stellt BVerfGE 88, 203 bezüglich des Schutzes des ungeborenen Lebens auch nicht auf Art. 6 Abs. 2 GG ab. Für das Zivilrecht s. Burghart, in: Wellenhofer (Hrsg.), beck-OK BGB, Stand: 1.2.2022, § 1666 Rn. 56 f.)) Doch warum soll das Interesse eines Kindes nach seiner Geburt durchgängig höheres Gewicht erhalten als die Anliegen anderer Personen, während vor der Geburt das Lebensrecht eines Kindes grundsätzlich dem reproduktiven Selbstbestimmungsrecht seiner Mutter zu weichen hat?
Die zivilrechtliche Dogmatik wendet § 1666 BGB, den Tatbestand der Kindeswohlgefährdung, überwiegend nur auf das geborene Kind an – mit dem Argument, dass nach § 1 BGB dessen Rechtsfähigkeit auch erst mit der Geburt einsetze. Auch dürfte die Frage, ob das Familiengericht einer Schwangeren Drogenkonsum und Alkoholmissbrauch verbieten kann, eher akademischer Natur sein. Im Verfassungsrecht fällt der Schutz des nasciturus nach inzwischen wohl überwiegender Ansicht nicht in den Gewährleistungsbereich der Elternverantwortung nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Das ungeborene Leben soll vielmehr exklusiv durch Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt sein, während die elterliche Sorge erst mit der Geburt einsetzen soll.((Vgl. Burgi in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 GG (Stand 2007) Rn. 79 mwN; a.A. von Coelln in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021 Rn. 52; offengel. von BVerfG (K) NJW 2017, 948.)) Rechtspolitisch führt diese Unterscheidung dazu, dass das sog. Kindeswohlprinzip mit seiner Wertung, dass Kindesinteressen Vorrang vor allen anderen beteiligten Interessen haben, auf den nasciturus keine Anwendung findet. Ein Beispiel dafür, wie auch der Nichtgebrauch positiv konnotierter Begriffe die rechtspolitische Entwicklung präjudiziert.
Allerdings hat das BVerfG im Klimaschutzbeschluss vom März 2021 staatliche Schutzverpflichtungen auf ungeborene Menschen erstreckt – in seiner Anordnung eines Gebots der intertemporalen Freiheitssicherung. „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen.“((BVerfGE 157, 30 (130 f. Rn. 183).)) Darin kommt der Gedanke einer gleichmäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Zeit zum Ausdruck. Wenn die gesetzlich damals vorgesehene Zäsur des Jahres 2030 für die Verteilung des CO2-Restbudgets keine entscheidende Rolle spielen darf, so ist dem der allgemeine Grundgedanke einer zeitlichen Bruchlosigkeit bei der Verteilung von Freiheitschancen zu entnehmen. Wie soll es damit vereinbar sein – und zwar verfassungsrechtlich, nicht nur rechtspolitisch – die Geburt eines Menschen als Zäsur einzustufen, von der an die Interessen von Kindern Vorrang vor allen anderen Belangen haben sollen, während sie vor der Geburt der reproduktiven Selbstverwirklichung der Frau zu weichen haben?((Weiterführend zum Verfassungsprinzip der Gleichheit in der Zeit A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, 143 ff.))
Perspektiven einer Novellierung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs
Eine Novellierung des Schwangerschaftsabbruchs, die das Selbstbestimmungsrecht der Frau berücksichtigt, muss Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines individuellen, nicht dem Vorbehalt des Möglichen unterliegenden Ausgleichsanspruchs normieren. Dieser ist auf diejenigen Leistungen gerichtet, zu denen der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht für das ungeborene Leben verpflichtet ist. Durch ein Leistungspaket an materieller und immaterieller Förderung, dessen Inhalt sich an der jeweils nachgewiesenen Notlage orientiert, ist jede Frau, die sich dafür entscheidet, ihr Kind auszutragen, so zu stellen, dass sie durch die Geburt weder kurz- noch langfristig finanzielle Nachteile erleidet. Im Übrigen muss der Adressatenkreis familienpolitischer Fördermaßnahmen generell auf den Schutz ungeborener Kinder erweitert werden. Denn derzeit verdrängt der Tanz um das geborene Kind jedes ungeborene Kind in die Abbruchstatistik.