Der nächste Hammer vom EGMR

Das heutige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betrifft zwar die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht unmittelbar: Es geht nicht um den Fall, dass die Sicherungsverwahrung erst nachträglich angeordnet wird, um einen gefährlichen Straftäter nicht freilassen zu müssen. Sondern es geht um den Fall, dass die schon im Urteil angeordnete Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert wird, nachdem zwischenzeitlich die Höchstdauer von 10 Jahren gesetzlich abgeschafft wurde. Aber ich kann nicht erkennen, wie nach diesem Urteil die nachträgliche Sicherungsverwahrung – ausgenommen vielleicht bei zu lebenslanger Haft Verurteilten – noch Bestand haben könnte. Es geht um einen Gewaltverbrecher, der seit seinem 15. Lebensjahr fast durchgängig hinter ... continue reading

Nach all den Jahren: Der Konflikt über die Bananenmarktordnung ist beigelegt

In den Annalen der Rechtsgeschichte markieren wir den gestrigen Tag als denjenigen, an dem der Konflikt um die Bananenmarktordnung endete. Ein großer Tag, ein bedeutender Tag. Die Geschichte begann vor fast 20 Jahren: Die EU plante eine Marktordnung, die Bananen aus ehemaligen französischen und britischen Kolonien in Afrika, in der Karibik und im Pazifik gegenüber solchen aus anderen Staaten zollrechtlich privilegierte. Das fanden vor allem die deutschen Obstimporteure nicht gut, weil die so genannten AKP-Bananen als mickrig und unansehnlich galten und sie Umsatzeinbußen befürchteten. Außerdem fanden das die Bananenexporteure aus Mittelamerika und die großen US-Obstkonzerne nicht gut, aus selbsterklärenden Gründen. ... continue reading

Abtreibungs-Urteil aus Straßburg?

In den USA ist das Abtreibungs-Thema seit Jahrzehnten eins der am heißesten diskutierten verfassungspolitischen Themen überhaupt. An Roe vs. Wade, das Grundsatzurteil des Supreme Court von 1973 zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, scheiden sich nach wie vor die politischen wie die verfassungsrechtlichen Geister. Bekommt jetzt auch Europa ein ähnliches Urteil – mitsamt einer ähnlich polarisierten Debatte? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat letzte Woche über eine Klage dreier Irinnen verhandelt, die das rigide Abtreibungsverbot in Irland als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) angreifen. Im erzkatholischen Irland steht auf illegale Abtreibung lebenslange Haft. Das Recht des Fötus auf Leben steht ... continue reading

BVerfG: Ein neues Asyl-Grundsatzurteil?

Für Griechenland kommt es zur Zeit ganz dick. Offenbar ist nicht nur die Staatsverschuldung dort in einem Zustand, den man in der EU eigentlich nicht für möglich gehalten hätte. Das Asylverfahren scheint in Griechenland so gut wie zusammengebrochen zu sein. Jedenfalls bereitet sich das Bundesverfassungsgericht darauf vor zu überprüfen, was dies für den Status Griechenlands als sicherer Drittstaat i.S.v. Art. 16 II 1 GG bedeutet. Und ob es dabei bleiben kann, dass Asylbewerber in immer größerer Zahl nach Griechenland abgeschoben werden, ohne dass irgend ein Richter sich anschaut, wie es um die Sicherheit dort faktisch bestellt ist. Das BVerfG hat ... continue reading

Frankreich: Senat nimmt Karlsruhe in Schutz

Nach all der Kritik, die das BVerfG wegen des Lissabon-Urteils aushalten musste, findet der Zweiten Senat heute diesen Rapport des französischen Senats im Adventskalender. Hubert Haenel, Vorsitzender des Europaausschusses, kommt darin zu dem Schluss, dass das Lissabon-Urteil in Wirklichkeit total in Ordnung geht. Der Bericht fasst die Funktionsweise der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit und die ganze Vorgeschichte von Solange I und II über Maastricht sehr präzise und gut zusammen (wer sich da näher informieren will und gut genug französisch kann, für den lohnt sich die Lektüre). Was die Bewertung des Lissabon-Urteils betrifft, kann Haenel gar nicht verstehen, was die Kritiker eigentlich haben. ... continue reading

Schweiz: a blessing in disguise?

Kurzfristig ist das Schweizer Minarett-Referendum zweifellos eine furchtbare Sache – vor allem für die Schweizer Muslime sowie all jene zahlreichen Schweizer, die sich für das Ergebnis schämen und nun in der ganzen Welt – mitgefangen-mitgehangen – genauso als xenophobe Vierkantschädel dastehen wie ihre majoritären Mitbürger. Aber längerfristig könnte der Vorgang das europäische Verfassungsverständnis revolutionieren: Wir sind immer noch gewohnt, unsere nationale Verfassung als den Schlussstein der Normenpyramide zu betrachten, als den obersten Haken, an dem alles Recht aufgehängt ist und aufgehängt sein muss, sonst gilt es für uns nicht. Der Fall der Schweiz eignet sich wie kaum ein zweiter als ... continue reading

Warum nicht als „Grand Débat sur la Difference Européenne“?

Frankreichs Immigrationsminister Eric Besson beraumt eine „Grand Debat sur l’Identité Nationale“ an, lässt allerhand  Leute mit oder ohne Migrationshintergrund ihre Gefühle beim Absingen der Marseillaise beschreiben, verballert einen Haufen Geld, und am Ende, so hofft er, bekommt er eine gültige Antwort auf die Frage, was Franzose sein heute bedeutet. Das Ding ist ziemlich aufwändig aufgezogen: Foren, Videos, lokale Veranstaltungen in allen Départements und Arrondissements des Landes, und am 2. Februar will der Minister die französische Identität in einem Abschlusscommuniqué zusammenfassend beschreiben. Es ist im Übrigen dafür gesorgt, dass das Ganze nicht außer Kontrolle gerät: Bei dem Youtube-Kanal sind die Kommentare ... continue reading

Vorratsdatenspeicherung: Rumänisches Verfassungsgerichtsurteil liegt jetzt auf deutsch vor

Das rumänische Verfassungsgerichtsurteil zur Vorratsdatenspeicherung ist jetzt in deutscher Übersetzung online, nicht amtlich, sondern beim AK Vorratsdatenspeicherung. Das Gericht stellt offenbar auf das Regel-Ausnahmeverhältnis beim Grundrechtsschutz ab: Der Staat sei verpflichtet, das Recht der Bürger, frei und vertraulich zu kommunizieren, zu schützen und nicht in diese Rechte einzugreifen, und davon könne es Ausnahmen geben. Durch die Vorratsdatenspeicherung werde diese Ausnahme aber zur Regel, und die freie und vertrauliche Kommunikation sei nur noch als Ausnahme möglich. Außerdem bemängelt der rumänische Verfassungsgerichtshof die Unverhältnismäßigkeit der VDS: Sie stehe in keinem Verhältnis zu ihrem Anlass, weil sie sowieso anlasslos und kontinuierlich stattfinden müsse. ... continue reading

Wie der EuGH unsere Sorgen zerstreut

Auf meine Anfrage wegen des nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällten EuGH-Urteils Kommission/Spanien, C-154/08, habe ich jetzt eine Antwort bekommen. Zur Erinnerung: Der EuGH hat erstmals einen Mitgliedsstaat wegen einer Vertragsverletzung verurteilt, die auf einem höchstrichterlichen Urteil beruht. Diese Konstellation ist in zweierlei Hinsicht extrem brisant: Erstens kommt damit der verurteilte Mitgliedsstaat in eine böse Zwickmühle, da er die Vertragsverletzung kaum stoppen kann, ohne die Unabhängigkeit der Justiz anzutasten. Zweitens krachen damit europäische und nationale Justiz ungebremst gegeneinander: Daraus kann ein veritabler Verfassungskonflikt entstehen, und zwar durchaus auch bei uns. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht demnächst in Sachen Vorratsdatenspeicherung oder Altersdiskriminierung ... continue reading

Ein EuGH-Urteil und viele bange Fragen…

Was tun mit EU-rechtswidrigen Gerichtsurteilen? Wir hatten neulich das EuGH-Urteil Kommission/Spanien hier im Verfassungsblog, dessen Verständnis mir meine lückenhafte Beherrschung der französischen Sprache erschwert hat. Offenbar stellt das Urteil auch Leute mit besserem Einblick vor Rätsel – und zwar vor Rätsel von eher beunruhigender Art. Drüben bei Adjudicating Europe sorgt sich Pescatorius über die Implikationen des Urteils: Immerhin, hält er/sie fest, hat der EuGH darin zum ersten Mal ein Land in einem Vertragsverletzungsverfahren wegen eines Gerichtsurteils verurteilt. No minor deed, I must say. Indeed not. Das ist ein ziemlich heftiger Vorgang, wie bereits neulich dargestellt. AE fragt zu Recht, warum ... continue reading