In der letzten Woche hörte ich auf einer Tagung den Vortrag eines höheren Beamten der EZB über die internen Entscheidungsprozeduren im Governing Council. Weil eine Publikation nicht abgesprochen ist, will ich meinen Bericht anonymisieren. Der Vortrag war affirmativ. Der Redner wies darauf hin, dass der Council Entscheidungen treffen müsse, die nicht immer angenehm wären. Dies würde namentlich von akademischen Kritikern, die Idealmodellen nachhingen, oft nicht verstanden. Die Mitglieder des Rates seien unabhängig, sie diskutierten offen und sachlich miteinander. In den Beratungen zähle allein die Macht des Arguments, unwesentlich dagegen sei die nationale Herkunft der einzelnen Teilnehmer. Aus diesem Grund seien alle Mitglieder in ihrer Bedeutung gleich. Dies sei aber nur möglich, wenn vertraulich beraten werde. Das unterscheide die Diskussion grundlegend von einem politischen Prozess, in dem keine Argumente ausgetauscht, sondern nur Positionen vertreten und diese in ein Tauschgeschäft einbezogen und nach Machtkriterien durchgesetzt würden. Die Diskussionen im Rat basierten zudem auf einer sehr gut aufbereiteten Faktengrundlage, in der alle entscheidungserheblichen Faktoren aufbereitet würden. Der Prozess sei perfektionistisch.
Lassen wir einmal offen, ob diese Darstellung so stimmt – vermutlich stimmt sie zum Teil, vermutlich nicht im Ganzen. Faszinierend erscheint mir, dass dies genau die Geschichte ist, die Verfassungsrichter – wenn der Eindruck nicht täuscht, heute mehr als früher – von ihrer Arbeit zu erzählen pflegen. Das ist natürlich kein Zufall. Beide Typen von Institutionen müssen eine eigene politische Legitimation beanspruchen, schließlich üben sie immense Herrschaftsgewalt aus, und sich dabei zugleich von der normalen Politik distanzieren. Denn ihre Unabhängigkeit wäre sinnlos, wenn sich die eigenen Verfahren nicht von einem politischen Prozess unterscheiden ließen. Hinzukommt, dass sich beide Institutionen nicht mehr als reine Expertokratien rechtfertigen lassen. Dies gilt für ihre jeweiligen zentralen Legitimationsreferenzen: die Referenz auf „ökonomische Fakten“ und die Referenz auf „Verfassungsrecht“. Beide verstehen sich nicht von selbst. Beide sind umstritten – und dabei ist es erst einmal gleichgültig, ob wir diesen Streit als politische Auseinandersetzung bezeichnen oder nicht.
Dieser Zweifel an Expertifizierung führt beide Arten von Institutionen zu einer zweiteiligen Rekonstruktion ihrer Legitimation, in der die Legitimationsreferenz (ökonomische Fakten/Recht) durch ein weiteres Element ergänzt werden muss: die rationale Deliberation, den Habermas-Faktor. (Am Rande sei bemerkt, dass für die Habermassche Theorie eine solche Zweiteilung nicht möglich wäre, weil auch ökonomische und juristische Argumente in der Diskursmodellierung aufgehoben sind. Für uns ist das hier nicht wichtig, es kommt darauf an, wie sich die Institutionen selbst sehen). Damit wird die Funktion der Diskursethik umgedreht. Sie war als ein Rationalitätsmodell mit normativem Anspruch gedacht, das dazu verwendet werden sollte, soziale Praktiken kritisch zu untersuchen. Nun wird diese Theorie als Mittel der Selbstrechtfertigung unabhängiger Herrschaftsgewalt verwendet.
In jedem Fall geht der Hinweis auf vernünftiges Argumentieren nicht auf. Selbst wenn es stimmt, dass sich unabhängige Institutionen so verhalten, wie sie es von sich selbst behaupten, also eine Praxis interesseloser rationaler Deliberation praktizieren, kann diese Praxis nicht die Legitimationsleistung erbringen, die für sie in Anspruch genommen wird. Denn ob eine Deliberation diesen Maßstäben genügt, ob sie durch gute Gründe getragen und inklusiv ist, muss eben von allen Betroffenen in einer eigenen Deliberation gewürdigt werden können. Mit anderen Worten: Der Austausch von vernünftigen Argumenten schafft zwar zwischen den Teilnehmern der Beratung Rechtfertigung, aber nicht gegenüber denjenigen, die von ihr ausgeschlossen sind. Die deliberierenden Organe müssen ihren Anspruch dadurch substantiieren, dass sie diesen den anderen vorlegen – und das bedeutet im Ergebnis: Sie müssten öffentlich deliberieren, um den Kriterien der Diskursethik genügen zu können.
Hier liegt offensichtlich ein Problem. Denn wir wissen, dass die Veröffentlichung solcher Debatten sehr ungünstige Rückwirkungen hat. Erfahrungen in Brasilien und der Schweiz zeigen, dass öffentlich beratende Gerichte im Ergebnis nicht mehr beraten, sondern Positionen vertreten – oder die Ergebnisse bereits abgeschlossener Beratungen präsentieren. Vertrauliche Beratungen stiften keine Legitimation, die Öffentlichkeit der Beratungen schädigt die Qualität der Beratungen. Man kann hierin auch einen Mangel der Diskurstheorie selbst sehen, die keine Modelle für eine Aufgabenteilung zwischen öffentlichen und vertraulichen Beratungen bereitstellen kann.
Wie lösen wir dieses Problem praktisch? Für Gerichte ist dies klar. Entscheidungen müssen begründet werden. Die Begründung ist zugleich Ergebnis der Beratung und deren vielfach gefilterte Dokumentation. Natürlich erfahren wir aus einer Begründung nicht, wie es zu ihr gekommen ist; aber wir sollten aus ihr erfahren, welche Gründe für die Entscheidung sich in der Beratung durchgesetzt und zu der Entscheidung geführt haben. Wir wollen hoffen, dass es keine „versteckten Urteilsgründe“ (Martin Kriele) gibt, also Motive für die Entscheidung, die nicht in den offiziellen Gründen auftauchen. Wir wissen, dass es Gerichten manchmal besser, manchmal schlechter gelingt, Gründe zu liefern, die sich überzeugend mit der Entscheidung verbinden lassen. Nicht immer können wir uns vorstellen, dass die offiziellen Gründe den realen Motiven entsprechen.
Nicht alle Zuhörer waren von der Geschichte des EZB-Mitarbeiters überzeugt. Warum musste er sie überhaupt erzählen? Das Problem mit der anfangs dargestellten Erzählung ist eben nicht, dass sie nicht stimmt, sondern dass sie Ausdruck eines Zweifels darüber zu sein scheint, wie überzeugend die eigentliche Begründungsleistung ist. Es kann durchaus sein, dass dieses Misstrauen nichts mit der Institution zu tun hat, dass unabhängige Institutionen also nicht immer das Vertrauen bekommen, das sie verdienen; aber es ist unklar, ob der Hinweis darauf, wie korrekt und vernünftig ein geheimer Vorgang abgelaufen ist, Vertrauen schaffen kann. Kurz gesagt: Je mehr Zentralbanker und Richter meinen, sich außerhalb ihrer formalisierten Begründungsstrukturen darüber erklären zu müssen, wie vernünftig ihre Verfahren sind, desto mehr scheinen sie damit Zweifel genau daran zum Ausdruck zu bringen.