In einem Artikel von diesem Montag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beklagt Redakteur Reinhard Müller den Umgang der Bundespolitik mit der politischen Situation in Thüringen aus verfassungsrechtlicher Sicht. Insbesondere die Feststellung der Bundeskanzlerin, die Wahl eines Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD sei „unverzeihlich“ und solle rückgängig gemacht werden, kommentiert er kritisch. „Die Bundeskanzlerin hat Thüringen im Prinzip nichts zu sagen“, denn um eine Pflicht des Landes gegenüber dem Bund sei es nicht gegangen und mangels Parteivorsitzes habe sie auch kein politisches Mandat dazu, sich in der Sache zu äußern – umso mehr nicht, wenn es um eine demokratische Wahl gehe, die der Landtag aus eigenem Recht vorgenommen habe. Hier gelte es, „die demokratische Form zu wahren“. Juristisch untermauert wird diese Sicht durch einen Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dessen zweiter Senat der Bundesregierung Neutralitätspflichten im politischen Meinungskampf auferlegt habe.
Aus dieser Perspektive erscheint es verfassungsrechtlich zwielichtig, wenn die Bundeskanzlerin die Wahl eines Landesministerpräsidenten kritisiert, weil sie zum einen nicht zuständig und zum anderen zu politischer Neutralität verpflichtet ist. Am ersten Argument ist eigentlich nur interessant, dass es zu diesem Anlass das Licht der Welt erblickt. Das ausgiebige wechselseitige Kommentieren von Bundes- und Landespolitik gehört seit ihrem Anbeginn zu den Selbstverständlichkeiten der Bundesrepublik. Man fragt sich, was Franz-Josef-Strauß oder Johannes Rau dazu gesagt hätten, wenn man sie auf die Kompetenzordnung des Grundgesetzes hingewiesen hätte, als sie sich bundespolitisch äußerten. Dass dies verfassungsrechtlich völlig unproblematisch ist, weil allgemein-politische Äußerungen keiner föderalen Kompetenzordnung unterliegen, ist, soweit ich sehe, noch nie in Frage gestellt worden. Dass es politisch geboten ist, weil Landespolitik und Bundespolitik, namentlich in der Institution des Bundesrates, durch das Grundgesetz absichtsvoll verschränkt wurden, ist ebenso klar.
Das zweite Argument ist von größerem Interesse. In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht es in einer Entscheidung aus dem Jahr 2018 der damaligen Bundesforschungsministerin untersagt, eine Warnung vor der AfD auf die Homepage des Ministeriums zu stellen. Freilich trifft nicht zu, dass es diese Rechtsprechungslinie Angehörigen der Bundesregierung untersagt, sich politisch zu äußern, wie Müller mit einem Halbsatz aus der Entscheidung andeutet. Die berechtigte Wurzel dieser Rechtsprechung liegt nicht im Anliegen einer De-Politisierung der Regierung, sondern in der Sicherung politischer Chancengleichheit zwischen den Parteien der Opposition und den mit ungleich mehr Ressourcen ausgestatteten Angehörigen der Regierung. Entsprechend hat das Gericht eine eindeutige politische Äußerung der damaligen Bundesministerin Schwesig gegen die NPD im Jahr 2014 nicht beanstandet.
Dennoch bleibt die Vorstellung, die Bundesregierung sei einem Neutralitätsgebot unterworfen, irritierend. Denn als demokratisches Organ kann sie nicht anders, als sich politisch zu äußern – und zwar nicht nur, wenn ihre Angehörigen zugleich ein Parteiamt bekleiden. Sollte eine Antwort auf die politische Krise wirklich darin liegen, mit verfassungsrechtlichen Mitteln aus Politikern Beamte zu machen und die eigentliche Politik damit im Ergebnis denen zu überlassen, die keine Ämter im geltenden System anstreben? Das Verständnis des Regierens als höhere Form des Verwaltens war für Max Weber ein wesentlicher Grund für den gerechtfertigten Niedergang des Kaiserreichs. Gut passt dazu der Ruf nach einer Expertenregierung in Erfurt. Verfassungsrechtlich entsteht auf diese Weise eine seltsame Zwei-Welten-Lehre einerseits aus Systemgegnern, die unter Berufung auf die Meinungsfreiheit fast alles, andererseits aus politischen Amtsträgern, die fast gar nichts mehr sagen dürfen. Die wehrhafte Demokratie kann so nicht im politischen Alltag beginnen.
Die Vorstellung, Politik als „Kompetenzausübung“ zu verstehen und dadurch juristisch weitgehend einzuhegen, ist, das hat Christian Neumeier soeben in einer brillanten von Christian Waldhoff an der HU betreuten Promotionsschrift rekonstruiert, ein Kind des krisengeplagten deutschen Nationalliberalismus des späten 19. Jahrhundert. Eine Entsprechung in anderen demokratischen Verfassungsordnungen wird sie nicht finden. Dass eine Regierungschefin politisch neutral sein sollte, dürfte wohl nirgendwo auf Verständnis stoßen. Wäre sie es, würden sofort Klagen über das innenpolitische Vakuum laut, das eine solche Neutralität zwangsläufig erzeugt. Nicht zum ersten Mal wird hier eine politische Auseinandersetzung in einen Legalitätsdiskurs übergeleitet, der die demokratische Auseinandersetzung schwächt. Im Traum von der unpolitischen Regierung gehen bürgerliche Politikaversion, die nachwirkende Erfahrung mit der Behaglichkeit der alten Bundesrepublik, der Glaube an einen vorpolitischen Selbststand des Rechtsstaats, aber vielleicht auch eine intellektuell ausgezehrte Juristenausbildung eine Allianz ein, die mit dem Politikverständnis des Grundgesetzes nichts zu tun hat.
„Die demokratische Form wahren“ – was immer das bedeuten soll, es kann nicht heißen, politisch neutral zu sein. Hier verwechselt Müller, aber nicht nur er, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Form der Demokratie ist die Form der Politik.