In Karlsruhe wird heute und morgen über fundamentale Verfassungsfragen verhandelt: Heute geht es um die Antiterrordatei, morgen um den Deal im Strafprozess. Ich bin leider diesmal nicht vor Ort. Wir arbeiten daran, künftig solche Termine regelmäßig covern zu können, aber wir sind leider noch nicht so weit. Um so mehr tröstet mich, dass es dafür heute auch aus Luxemburg allerhand Interessantes zu berichten gibt.
Die erste bedeutende EuGH-Entscheidung des Tages betrifft unsere Lieblingsdemokratur Ungarn: Die hat ihr Vertragsverletzungsverfahren, das sie sich wegen der Säuberung der Justiz per Rentenalterabsenkung eingefangen hatte, krachend verloren.
Eine der vielen fragwürdigen Aktionen der nationalkonservativen FIDESZ-Regierung unter Viktor Orbán war, für Richter und Staatsanwälte Ungarns neue Altersgrenzen festzulegen: Statt wie bisher mit 70 sollten sie künftig schon mit 62 ihre Posten räumen. Das galt allerdings nur für die, die jetzt gerade in diesem Alter sind. Jüngere Richter und Staatsanwälte können länger im Amt bleiben, ab Jahrgang 1957 bis zum Alter von 65.
Steckt dahinter der Wille, die höheren Karriereränge in der Justiz möglichst flächendeckend von Personen, die unter sozialistischer Regierung ins Amt gekommen sind, zu befreien und mit eigenen Leuten zu besetzen? Der Verdacht liegt nicht fern. Aber der EuGH hütet sich, ein Wort darüber zu verlieren.
Maßstab ist vielmehr das Verbot der Altersdiskriminierung: Ältere Richter und Staatsanwälte auf diese Weise schlechter zu stellen als Jüngere bedarf valider sozial-, arbeitsmarkt- oder bildungspolitischer Gründe, und die kann der EuGH nicht erkennen. Die Altersgrenze zu vereinheitlichen oder jüngeren Juristen zur Herstellung einer ausgewogenen Altersstruktur in der Justiz den Zugang zu erleichtern, könnten zwar prinzipiell solche Gründe sein. Aber die konkreten Regeln seien nicht erforderlich bzw. nicht geeignet, diese Ziele zu erreichen. So könne etwa von der Herstellung einer ausgewogenen Altersstruktur in der Justiz keine Rede sein, wenn 2012 auf einen Schlag acht Jahrgänge aussscheiden, ab dann aber die Altersgrenze wieder schrittweise steige.
Der EuGH löst diesen Fall nicht als europäisches Verfassungsgericht, sondern im Rahmen seiner klassischen Rolle als Hüter des Unionsrechts: Ungarn hat eine Richtlinie verletzt, und das und nur das ist Gegenstand dieser Entscheidung. Der an Art. 2 EU gebundene Mitgliedsstaat Ungarn darf so gesehen seine Justiz säubern, wie es möchte, solange es dabei seine unionsrechtlichen Pflichten aus der Diskriminierungsrichtlinie nicht verletzt.
Ein Indiz, dass der EuGH den verfassungspolitischen Hintergrund des Falls durchaus gesehen und berücksichtigt hat, gibt es aber doch.
Ungarns Regierung hatte nämlich argumentiert, der Fall habe sich quasi erledigt. Das ungarische Verfassungsgericht hatte nämlich die Altersgrenzenregelung bereits für verfassungswidrig erklärt. Wenn die strittigen Normen somit bereits nichtig sind, wo liegt da dann noch die Vertragsverletzung?
Der EuGH hat sich auf diese Argumentation aber nicht eingelassen. Zum einen sagt er strikt formalistisch, dass ihn nur der Rechtszustand beim Ablauf der von der Kommission gesetzten Frist zur Abgabe einer begründeten Stellungnahme interessiere. Das Verfassungsgerichtsurteil sei erst später ergangen, und dass es rückwirkend wirkt, ändere daran nichts.
Zum anderen aber verweist der EuGH darauf, dass das Verfassungsgerichtsurteil den Betroffenen praktisch nicht viel hilft. Denn durch dieses Urteil werde
die Gültigkeit der individuellen Verwaltungsakte, mit denen die Dienstverhältnisse der Betroffenen beendet wurden, nicht unmittelbar berührt (…), werden diese nicht automatisch wieder in ihre Ämter eingesetzt. Vielmehr sind diese Personen für ihre Wiedereinstellung gezwungen, Klagen auf Aufhebung dieser Verwaltungsakte zu erheben, deren Ausgang, wie Ungarn in der mündlichen Verhandlung selbst bestätigt hat, ungewiss ist.