Die ungarische Regierung, die mit ihrer Zweidrittelmehrheit dem Land eine komplett neue Verfassung verpassen will, hat dabei auch Innovatives im Sinn.
Eine der Dinge, über die sie nachdenkt, ist die Einführung eines Extra-Wahlrechts für Eltern im Namen ihrer Kinder. Das geht aus einem Fragenkatalog hervor, den die Regierung an sämtliche Ungarn verschickt hat, um die Präferenzen der Ungarn zu ausgewählten Fragen zu ermitteln.
Das allein schon ist ein eigentümliches Verfahren: Ungarns Regierungspartei FiDESZ will kein Referendum für die neue Verfassung, weil sie ihren Wahlsieg im April 2010 als hinreichende demokratische Legitimation zur Verfassungsgebung interpretiert. Dass das ein bisschen dünn ist (zumal das Thema Verfassungsgebung im Wahlkampf offenbar gar keine Rolle gespielt hat), scheint die Regierung jetzt selber zu finden – daher wohl diese Fragebogenaktion.
Ein Familienwahlrecht dieser Art wird in Deutschland auch immer wieder mal diskutiert.
Ich bin kein Freund dieser Idee. Ich hab zwar selber Kinder und könnte der Vorstellung, dass meine Stimme plötzlich dreimal so viel wert sein soll wie vorher, durchaus was abgewinnen. Aber für mein Geruchsorgan verströmt diese Idee einen unangenehmen Pfaffenduft nach patriarchalischer Bevölkerungspolitik.
Keimzelle der Gesellschaft ist das Individuum
Das Wahlrecht ist die Institution, in der sich die staatsbürgerliche Gleichheit handfest manifestiert: Jeder, ob reich oder arm, ob doof oder Professor, hat genau eine Stimme und nicht mehr oder weniger.
Wenn man das aufbricht zugunsten von zusätzlichen Stimmen für Eltern, dann ist das vielleicht aus Sicht einer Theologie, die die Familie als Keimzelle der Gesellschaft betrachtet, konsequent. Ich halte aber, und mit mir das Grundgesetz, immer noch das Individuum mit seiner Menschenwürde als die Keimzelle der Gesellschaft.
Dass die Eltern die Stimme sozusagen treuhänderisch für ihre Kinder abgeben sollen, ist natürlich eine Augenauswischerei.
Das Wahlrecht ist etwas Höchstpersönliches. Es gibt keine Stellvertretung dabei. Ich kann nicht meine Frau bevollmächtigen, wenn ich aus irgendwelchen Gründen nicht selbst ins Wahllokal kann. Das hat seine Gründe. Es ist noch nicht lang her, da gehörte es zu den Vorrechten des grundbesitzenden Familienvaters, im Namen von Hausstand und Gesinde seine Stimme abzugeben.
Ich weiß nicht, zu welchen Zeiten Fidesz gern die Uhr zurückstellen würde, aber halte das eigentlich für einen Fortschritt, dass wir das überwunden haben.
Grundpflichten
Ein weiterer etwas streng riechender Punkt in der Frageliste: Soll es neben Grundrechten auch Grundpflichten in der Verfassung geben?
Auch das ist ein zutiefst illiberaler Gedanke. Er impliziert, dass hier der Staat ist und dort seine Bürger, und wenn die einen vom anderen was verlangen können, dann auch umgekehrt. Der Staat ist aber um der Bürger willen da, umgekehrt dezidiert nicht.
Ironie dabei: Grundrechte durch Grundpflichten zu relativieren, war ein Kennzeichen der kommunistischen Verfassungen, deren Geist Fidesz vorgeblich mit ihrer neuen Verfassung endlich bannen möchte. Beispiel Art. 59 der sowjetischen Verfassung:
Die Verwirklichung der Rechte und Freiheiten durch den Bürger ist nicht zu trennen von der Erfüllung seiner Pflichten.
Foto: Yolanda Fenwick, TheShutterBabe, Flickr Creative Commons
