16. Juli 2011

Maximilian Steinbeis

Ungarn: Orbán verdoppelt seinen Einsatz

Viktor Orbáns Versuch, seine Macht konstitutionell abzusichern, geht weiter: Das Verfassungsgericht und das Wahlrecht sind die jüngsten Angriffsziele, und in beiden Punkten gibt es Beunruhigendes zu berichten.

Ich beziehe meine Informationen aus einem E-Mail-Wechsel landeskundiger Politologen und Juristen, allen voran Kim Lane Scheppele aus Princeton und Andrew Arato von der New School in New York.

Leichenschändung an der alten Verfassung

Zunächst zum Verfassungsgericht: Der Plan, das Gericht zu vergrößern und die neuen Posten mit Gefolgsleuten zu besetzen, ist mittlerweile umgesetzt. Dabei hatte es Orbán offenbar besonders eilig: Weil die neue Verfassung, die die Vergrößerung des Gerichts vorsieht, erst zum Jahreswechsel in Kraft tritt, haben Orbáns Leute eigens am Leichnam der alten Verfassung noch einmal herumgeschnipselt, um dieses Court Packing Scheme noch im laufenden Jahr zu ermöglichen.

Eva Balogh hat sich die neuen Richter genauer angeschaut, ihre Analyse ist ziemlich furchterregend. Einige erfüllen offenbar nicht einmal die formalen Kriterien für die Wahl zum Verfassungsrichter, aber die FIDESZ-Mehrheit hat sich da einfach drüber hinweggesetzt – in der Gewissheit, die Kriterien ja im Nachhinein anpassen zu können, wenn das Kardinalgesetz zum Verfassungsgericht verabschiedet wird. Damit sind sieben der mittlerweile 15 Richterposten auf FIDESZ-Linie gebracht.

Kim Lane Scheppele schreibt, dass einer der neuen Richter, Béla Pokol, kurz vor seiner Wahl noch einen Gesetzentwurf vorgelegt habe, wonach alle bisherigen Urteile des Verfassungsgerichts tatsächlich für null und nichtig erklärt werden sollen. Wenn das Gesetz wird, dann wäre meine These, dass Ungarn eine neue Verfassung bekommt, aber sein Verfassungsrecht verliert, auf krasseste Weise bestätigt. Ungarn würde im konstitutionellen Chaos versinken.

Verfassungsgericht ist wehrlos

FIDESZ hat ohnehin dem Verfassungsgericht einen erheblichen Teil seiner Kompetenzen entzogen. Anfang letzter Woche hat das Gericht (noch in alter Besetzung) die Verfassungsmäßigkeit dieser Tat festgestellt: Die Mehrheit der Richter entschied sich, an der bisherigen Linie des Gerichts festzuhalten, wonach es kein verfassungswidriges Verfassungsrecht geben kann und daher dem Gericht die Kompetenz fehlt, über die Gültigkeit von Verfassungsänderungen zu urteilen.

Diese Position ist nicht neu und insofern auch keine Überraschung. Es gibt in Ungarn keine dem Art. 79 II GG vergleichbare Verfassungsnorm. Das muss zwar kein Hindernis sein, wie das Beispiel Indien zeigt. Wenn aber das Gericht aber ausgerechnet in einem Fall, wo es um seine eigene Haut geht, seine etablierte Rechtsprechung aufgibt und die Existenz eines übergeordneten Kontrollmaßstabs für Verfassungsrechts einfach behauptet, dann wäre das sicher auch nicht gut für den Konstitutionalismus im Lande gewesen.

Trotzdem: Dass ausgerechnet in Ungarn, wo die verfassungsändernde bzw. -gebende Gewalt so leicht in eine Hand geraten kann, keine Schranken für den verfassungsändernden Gesetzgeber existieren, gehört zur besonderen Tragik dieses Falls.

Kleine Parteien ausgeschaltet

Kim Lane Scheppele schreibt weiter, dass auch das neue Wahlrecht allmählich Konturen annimmt: FIDESZ arbeitet offenbar außerhalb der parlamentarischen Gremien an einem Gesetzentwurf. Es soll dabei bleiben, dass die Parlamentssitze wie bisher je zur Hälfte als Listen- und als Direktmandate verteilt werden.

Die Änderungen dienen erkennbar dem Ziel, kleine und neugegründete Parteien zu eliminieren: Parteien brauchen künftig, um zur Wahl zugelassen zu werden, 1500 Unterschriften innerhalb von 21 Tagen aus mindestens 40% der Wahlkreise. Die 40%-Schwelle ist vor allem für liberale Parteien, die ihre Basis hauptsächlich in Budapest haben, eine üble Nachricht.

In den Wahlkreisen wird es, wenn ich das richtig verstehe, künftig keine Stichwahlen mehr geben, sondern wer die relative Mehrheit hat, bekommt das Mandat – klassisches Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien also.

Kims Vermutung ist, dass damit die allermeisten dieser Mehrheits-Mandate bei FIDESZ landen werden, weil die Opposition so zersplittert ist. Damit wäre es für FIDESZ noch leichter als bisher, die Zweidrittelmehrheit und damit die Herrschaft über die Verfassung zu verteidigen.

Andrew Arato sieht das ein bisschen weniger dramatisch: Orbán sei ein Spieler, und mit dem neuen Wahlrecht verdopple er seinen Einsatz. Wenn er die Zweidrittelmehrheit auch nur knapp verfehlt, dann verkehrt sich die neue Verfassung in ein enormes Hindernis für ihn – weil er die Zweidrittelmehrheit für alle fundamentalen Entscheidungen braucht, wäre er auf die Kooperation der verhassten Sozialisten angewiesen. Und wenn er richtig auf die Nase fällt, wozu er ja durchaus in der Lage ist, wie die Wahl 2002 gezeigt hat, dann könnte das Wahlrecht sogar in die Hände der Sozialisten spielen und ihnen eine Zweidrittelmehrheit bescheren, die sie dazu nützen würde, Orbáns Osterverfassung in die Tonne zu treten.

Das scheint mir allerdings auch keine Aussicht, die mir Freude bereitet. So oder so, die Verfassung ist in Ungarn zum Spielball wechselnder Zweidrittelmehrheiten geworden, und das ist die eigentliche Katastrophe. Ungarn ist wie ein Schiff, das sich von seinem konstitutionellen Anker losgerissen hat und von den politischen Stürmen herumgeworfen wird – eine Gefahr nicht nur für Passagiere und Mannschaft, sondern auch für die anderen Schiffe im europäischen Hafen.

Foto: Melissa Gray, Flickr Creative Commons

 

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