Wenn ich als Deutscher im Ausland etwas Strafbares getan habe, darf Deutschland mich nicht an den ausländischen Staat, der mich dafür bestrafen will, ausliefern. Davor schützt mich Art. 16 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz: Deutschland ist mein Staat, die deutsche meine Rechtsordnung, die ich kenne und der ich vertraue. Was irgendwo anders gilt, dem ist nicht zu trauen. Mit dem verbindet mich nichts. Mich, soweit ich mich in ihm aufhalte, bestraft mein eigener Staat und sonst niemand.
Das stimmt natürlich so längst nicht mehr: Rechtsordnungen, die auf mein Vertrauen Anspruch haben, gibt es auch anderswo. Ich bin nicht nur Deutscher, sondern auch Unions-, wenn nicht gar Weltbürger. Internationale Strafgerichtshöfe können meine Auslieferung ebenso verlangen wie die Staatsanwaltschaften anderer EU-Staaten, soweit sie rechtsstaatliche Grundsätze wahren, und beides ist seit 2000 in Art. 16 Abs. 2 GG ausdrücklich verfassungsrechtlich abgesichert.
Vor diesem Hintergrund ist das Urteil Petruhhin v. Lettland von Interesse, das der Europäische Gerichtshof heute verkündet hat. Alexej Petruhhin wurde in Russland als mutmaßlicher Drogenhändler gesucht und in Lettland verhaftet. Wäre er Lette, wäre er nach Art. 98 Abs. 3 der lettischen Verfassung vor Auslieferung nach Russland geschützt. Ist er aber nicht – er ist Este.
Und damit Unionsbürger. Kann ihm Lettland vorenthalten, was es seinen eigenen Staatsbürgern gewährt? Die Antwort, die der EuGH auf diese Frage des Lettischen Obersten Gerichtshofs gibt, dürfte in Karlsruhe mit hoch in die Stirn gezogenen Augenbrauen gelesen werden.
Wenn ein Este sich nach Lettland begibt, so der EuGH, dann macht er von seinem Recht als Unionsbürger Gebrauch, sich in der EU frei zu bewegen (Art. 21 AEUV). Wenn er dort befürchten muss, ausgeliefert zu werden, während er als Lette diese Angst nicht zu haben bräuchte, dann wird er in diskriminierender Weise in diesem Recht behindert. Lettland könnte sich zwar prinzipiell damit verteidigen, dass es damit ja nur verhindert, dass sich mutmaßliche Kriminelle ihrer Strafe entziehen können, da Lettland selbst zur Bestrafung eines Esten wegen einer in Russland begangenen Tat gar keine Zuständigkeit besitzt. Aber dann, sagt der EuGH (und geht damit sogar noch über die Schlussanträge von Generalanwalt Yves Bot hinaus), soll Lettland sich erst mal darum kümmern, ob der Gerechtigkeit nicht auch durch einen EU-Haftbefehl seines Mit-EU-Mitgliedslands Estland genüge getan werden kann, anstatt den Mann gleich nach Russland zu überstellen.
Das wäre vielleicht gar nicht mal so bemerkenswert, hätte nicht zuvor das Bundesverfassungsgericht, genauer: die 2. Kammer des Zweiten Senats, etwas ganz anderes vertreten, wie Oliver García vom De-Legibus-Blog in einer Reihe sehr erhellender Beiträge herausgearbeitet hat. Aus Karlsruher Perspektive haben Ausländer, ob Unionsbürger oder nicht, mitnichten Anspruch darauf, in den Schutzbereich von Art. 16 Abs. 2 GG einbezogen zu werden. Und eine europarechtswidrige Diskriminierung könne das schon deshalb nicht sein, weil das Auslieferungsrecht nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Europarechts falle:
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten keine Materie ist, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und das europarechtliche Diskriminierungsverbot daher in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen ist.
Das erschien der 2. Kammer des Zweiten Senats dermaßen sonnenklar, dass es weder das Versäumnis einer Vorlage dieser Frage in Luxemburg durch das OLG Frankfurt problematisieren noch gar selbst sich zu einer solchen Vorlage verstehen wollte.
In der Karlsruher Kammerentscheidung von 2014 ging es um einen Italiener namens Romano Pisciotti, der wegen eines Kartellverfahrens an die USA ausgeliefert werden sollte und dann auch ausgeliefert wurde, nachdem das BVerfG ihm einstweiligen Rechtsschutz dagegen verweigerte. Wie García berichtet, hat Pisciotti mittlerweile die Bundesrepublik deshalb auf Schadensersatz verklagt und das LG Berlin davon überzeugt, dass man das mit dem sachlichen Anwendungsbereich des Europarechts auch ganz anders sehen kann, wenn nicht muss. Das LG Berlin hat diese Frage dem EuGH zur Klärung vorgelegt. Wie die Antwort ausfallen wird, kann man sich nach der heutigen Entscheidung denken.
Ein Landgericht holt nach, was das BVerfG versäumt hat, widerspricht ihm in der Begründung explizit und behält damit womöglich am Ende Recht – nicht so günstig für den Respekt der Instanzgerichte vor der Autorität Karlsruhes. Aber das ist gar nicht mal das Schlimmste.
Parallel kämpft der 2. Senat ja mit großer Leidenschaft gegen die (bisherige) EuGH-Linie in der umgekehrten Konstellation, aus europarechtlichen Gründen ausliefern zu müssen, wen man aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ausliefern darf. Hier konnte sich das BVerfG als liberaler Freiheitsverfechter gegen den grabeskalten Anerkennungsgrundsatz-Dogmatismus des EuGH positionieren (bevor ihm derselbe mit der Aranyosi-Entscheidung wieder einen Großteil des Winds aus den Segeln nahm).
Das wird ihm in der gegenwärtigen Konstellation nicht gelingen. Im Gegenteil. Hier steht das BVerfG als derjenige da, der um einer grabeskalten Vorstellung willen, was Staatsbürgerschaft bedeutet, Romano Pisciotti um sein Recht gebracht hat, als Italiener in Deutschland nicht diskriminiert zu werden und in seinem Bestreben, nicht eine ihm unvertraute Rechtsordnung ausgeliefert zu werden, mit gleichem Maß gemessen zu werden und nicht zuletzt die damit verbundenen europarechtlichen Fragen von dem gesetzlichen Richter in Luxemburg beantwortet zu bekommen. Gratulation.
Zur Klarstellung: auch der EuGH fordert nicht die Gleichstellung von Staats- und Unionsbürgern in punkto Auslieferungsschutz. Er akzeptiert das Argument, dass die Diskriminierung von Bürgern anderer EU-Staaten im Vergleich zu den eigenen Leuten gerechtfertigt sein kann, wenn sonst die Möglichkeit entstünde, dass man sich der Strafe effektiv entziehen kann. Aber was er nicht akzeptiert, ist die Verkürzung des Auslieferungsschutzes auf das Verhältnis zwischen Staatsbürger und Staat. Das passt in eine Union, deren Bürger überall in der Union Bürgerrechte genießen, nicht hinein.