17. Mai 2011

Maximilian Steinbeis

Ist es eine gute Idee, Richter über die Gültigkeit von Gesetzen urteilen zu lassen?

Diese Frage bewegt in den USA so manchen, seit Obamas Gesundheitsreform in Kraft getreten ist: Die wird von den Republikanern der Verfassungswidrigkeit geziehen, weil sie angeblich die Rechte der Bundesstaaten mit Füßen tritt. Die dahinterstehende Argumentation hält zwar das etablierte Verfassungsrecht nahezu einhellig für hanebüchen, aber trotzdem finden sich Gerichte, die ihr folgen.

Der erschreckende Befund dabei ist, so schreibt jedenfalls die angesehene Supreme-Court-Watcherin Dahlia Lithwick, dass vor Gericht die Verfassungsfrage offenbar durchläufig nach politischer Färbung der Richter entschieden wird: Alle Richter, die von republikanischen Präsidenten nominiert wurden, haben bislang die Reform für verfassungswidrig erklärt. Und sämtliche von Demokraten Nominierten für verfassungsgemäß.

Da kann man schon ins Grübeln kommen: Wenn auch das Verfassungsrecht so eklatant von der politischen Neigung dessen, der es spricht, abhängt, wozu überhaupt noch das Ganze? Kann man dann nicht gleich die Entscheidung der Politik überlassen?

Völker mit stolzer demokratischer Tradition wie die Briten und die Schweizer machen das schließlich von vornherein so. Sie denken nicht im Traum daran, irgendwelchen Juristen zu erlauben, souveräne, demokratisch legitimierte legislative Entscheidungen über den Haufen zu werfen.

Rule of Law

Sollten sich die USA Großbritannien zum Vorbild nehmen und die richterliche Normenkontrolle abschaffen? Dahlia Lithwick beruft sich auf den NYU-Rechtstheoretiker Jeremy Waldron, der genau dies seit Jahren fordert.

Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich die USA schließlich einst vom britischen Mutterland mühsam und blutig freikämpfen mussten. Die USA sind in hartem Gegensatz zu Großbritannien entstanden: Im Gegensatz zu den Briten haben sie sich eine geschriebene Verfassung gegeben. Im Gegensatz zu den Briten verlangt diese Verfassung dem Kongress Zweidrittelmehrheiten ab, wenn er sie ändern will. Im Gegensatz zu den Briten gibt es in den USA ein Recht, das im Rang über dem von der Volksvertretung Erlassenen steht. Im Gegensatz zu den Briten haben die Amerikaner eine Verfassung, die den Gesetzgeber dazu, sich beim Gesetzgeben mit ihren inhaltlichen Vorgaben auseinander zu setzen.

Die US-Verfassung unterwirft auch den Gesetzgeber der Rule of Law. Sie macht den Souverän weniger souverän. Das ist gerade der Witz an der Sache.

Dass der US Supreme Court 1803 die Kompetenz in Anspruch nahm und durchsetzte, Rechtsakte des Kongresses am Maßstab der Verfassung messen und gegebenenfalls für nichtig erklären zu können, war so gesehen nur konsequent.

Mythifizierung der Verfassung

Ich würde es für einen großen Fehler halten, dem vor Obsoletheit in allen Fugen knirschenden britischen Modell hinterherzulaufen und die richterliche Normenkontrolle über Bord zu werfen.

Dass das Verfassungsrecht in den USA so polarisiert ist, hat ganz andere Gründe, und die haben mit einem ganz anderen Aspekt der amerikanischen Staatsgründung zu tun.

Die amerikanische Rechte fuchtelt heftiger und häufiger mit der Verfassung herum als jeder andere. Aber sie meint damit nicht die Verfassung als Recht, sondern als eine Art göttlich inspirierte Offenbarungsschrift, deren Exegese in gut amerikanisch-protestantischer Tradition der Priesterkaste der Verfassungsjuristen entrissen werden muss.

An die Stelle des Verfassungsrechts, dieses über 200 Jahre entstandenen, fein gewebten Geflechts aus Rechtsprechung, Gelehrsamkeit und politischer Praxis, tritt in den Augen dieser Rechten der mythisch überhöhte Wille der „Founders“, die 1787 wie Moses auf dem Berg Sinai dem Volk der Neuen Welt die in Stein gemeißelten ewigen Grundsätze ihres Rechts herunterreichten (in denen natürlich nichts von gay marriage und social security steht).

Das ist es, was faul ist am Verfassungsstaat USA: Dass inzwischen ein erheblicher Teil seiner Juristenschaft diesem nationalreligiösen Verfassungsbegriff anhängt, bis hinein in den Supreme Court.

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