4. Mai 2010

Maximilian Steinbeis

Verfassungs-Imbroglio in Frankreich

Frankreich hat vor kurzem eine gewaltige Verfassungsreform durchlaufen, deren spektakulärster Part die Einführung einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle ist. Zuvor gab es eine Überprüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung nur während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens. Hatte das Parlament einmal abgestimmt, war das Gesetz durch keinen Richterspruch mehr umzustoßen.

Das war, genauso wie in Großbritannien, nicht nur irgendein Verfassungsdetail, sondern kennzeichnend für die französische Verfassungskultur: Was das demokratisch gewählte Parlament sagt, ist der „volonté génerale“ des Volkes und hat von den Richtern umgesetzt, aber nicht an höheren Maßstäben kontrolliert zu werden.

Um so revolutionärer ist, dass Art. 61-1 der französischen Verfassung nunmehr folgendes vorsieht:

Wird bei einem vor einem Gericht anhängigen Rechtsstreit vorgebracht, eine gesetzliche Bestimmung verletze die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann nach Überweisung durch den Staatsrat oder den Kassationsgerichtshof der Verfassungsrat zu dieser Frage angerufen werden. Der Staatsrat oder der Kassationsgerichtshof äußern sich in einer festgelegten Frist. Das Nähere regelt ein verfassungsausführendes Gesetz.

Frankreich liegt damit global voll im Trend. Verfassungsgerichtliche Kontrolle gibt es mittlerweile fast überall, nicht zuletzt auch in Deutschland. Dass dieser Trend 1803 von den USA ausging (Marbury vs. Madison), dürfte dem gallischen Stolz bislang bei seiner Akzeptanz im Wege gestanden haben. Aber das ist alles nicht mehr so.

Höchstrichterliche Intrigen

Aber es wird noch interessanter.

Der französische Kassationsgerichtshof ist nämlich nicht so recht einverstanden damit, dass der Conseil Constitutionnel derart aufgewertet wird. Mitte April hat er eine Entscheidung gefällt, die in Frankreich großen Ärger und anderenorts großes Rätselraten auslöst: Er hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es mit EU-Recht vereinbar ist, dass die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle Priorität vor der europarechtlichen haben soll.

Jetzt kann der EuGH zusehen, wie er da rauskommt.

Als in den 50er Jahren das BVerfG seine Tätigkeit aufnahm, waren die obersten Gerichte, vor allem BGH und BAG, auch mitnichten erfreut über die rot gewandete Konkurrenz in Karlsruhe. Damals gab es noch keine direkten Richtervorlagen an das BVerfG, sondern nur solche über die obersten Bundesgerichte. Diese verbanden die Vorlagen mit umfangreichen Stellungnahmen und hofften so, den Spielraum des Verfassungsgerichts zu eigenständiger Rechtsprechung einzuschränken. 1955 verkündete das BVerfG kurzerhand den Beschluss, solche gutachterlichen Stellungnahmen seien im Vorlageverfahren unzulässig, was die BGH-Richter als eine Art Staatsstreich empfanden.

(via)

Update: Wie Adjudicating Europe unter der Überschrift „Coitus interruptus“ meldet, hat der Conseil Constitutionel der Gaudi mit diesem Urteil ein Ende bereitet.

Frankreich hat vor kurzem eine gewaltige Verfassungsreform durchlaufen, deren spektakulärster Part die Einführung einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle ist. Zuvor gab es eine Überprüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung nur während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens. Hatte das Parlament einmal abgestimmt, war das Gesetz durch keinen Richterspruch mehr umzustoßen.

Das war, genauso wie in Großbritannien, nicht nur irgendein Verfassungsdetail, sondern kennzeichnend für die französische Verfassungskultur: Was das demokratisch gewählte Parlament sagt, ist der „volonté génerale“ des Volkes und hat von den Richtern umgesetzt, aber nicht an höheren Maßstäben kontrolliert zu werden.

Um so revolutionärer ist, dass Art. 61-1 der französischen Verfassung nunmehr folgendes vorsieht:

Wird bei einem vor einem Gericht anhängigen Rechtsstreit vorgebracht, eine gesetzliche Bestimmung verletze die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann nach Überweisung durch den Staatsrat oder den Kassationsgerichtshof der Verfassungsrat zu dieser Frage angerufen werden. Der Staatsrat oder der Kassationsgerichtshof äußern sich in einer festgelegten Frist. Das Nähere regelt ein verfassungsausführendes Gesetz.

Frankreich liegt damit global voll im Trend. Verfassungsgerichtliche Kontrolle gibt es mittlerweile fast überall, nicht zuletzt auch in Deutschland. Dass dieser Trend 1803 von den USA ausging (Marbury vs. Madison), dürfte dem gallischen Stolz bislang bei seiner Akzeptanz im Wege gestanden haben. Aber das ist alles nicht mehr so.

Höchstrichterliche Intrigen

Aber es wird noch interessanter.

Der französische Kassationsgerichtshof ist nämlich nicht so recht einverstanden damit, dass der Conseil Constitutionnel derart aufgewertet wird. Mitte April hat er eine Entscheidung gefällt, die in Frankreich großen Ärger und anderenorts großes Rätselraten auslöst: Er hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es mit EU-Recht vereinbar ist, dass die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle Priorität vor der europarechtlichen haben soll.

Jetzt kann der EuGH zusehen, wie er da rauskommt.

Als in den 50er Jahren das BVerfG seine Tätigkeit aufnahm, waren die obersten Gerichte, vor allem BGH und BAG, auch mitnichten erfreut über die rot gewandete Konkurrenz in Karlsruhe. Damals gab es noch keine direkten Richtervorlagen an das BVerfG, sondern nur solche über die obersten Bundesgerichte. Diese verbanden die Vorlagen mit umfangreichen Stellungnahmen und hofften so, den Spielraum des Verfassungsgerichts zu eigenständiger Rechtsprechung einzuschränken. 1955 verkündete das BVerfG kurzerhand den Beschluss, solche gutachterlichen Stellungnahmen seien im Vorlageverfahren unzulässig, was die BGH-Richter als eine Art Staatsstreich empfanden.

(via)

Update: Wie Adjudicating Europe unter der Überschrift „Coitus interruptus“ meldet, hat der Conseil Constitutionel der Gaudi mit diesem Urteil ein Ende bereitet.

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