5. Mai 2020

Bernhard Wegener

Verschroben verhoben!

Traurige Einblicke in Karlsruher Parallelwelten

Dies ist keine glückliche Lektüre. Selten hat ein Urteil des BVerfG so traurig gestimmt. Nicht weil man das inhaltliche Anliegen des Gerichts nicht teilen könnte. Wohl aber, weil es eine an Verschrobenheit grenzende Weltferne und Selbstüberschätzung offenbart, von der man trotz aller gegenteiligen Anzeichen bis zum Schluss hoffen musste, sie möge dem Gericht und uns allen erspart bleiben. Alt ist das Gericht geworden, andere sind über es hinausgewachsen und so versteht es die Welt und seine Rolle in ihr nicht mehr. 

Dem Gericht missfällt die expansive Geldpolitik der EZB. Das ist nicht unverständlich, wenn man auf die schwindelerregenden Dimensionen dieser Politik und auf ihre umstürzenden sozial-, wirtschafts- und integrationspolitischen Konsequenzen schaut. Hier findet eine Umverteilung historischen Ausmaßes statt, die Aufmerksamkeit, Kontrolle und Begrenzung erfordert. 

Verschroben ist allerdings die Vorstellung, dass ausgerechnet das BVerfG hierzu berufen wäre und dies leisten könne. Die vermeintlichen Instrumente dazu hat sich der Zweite Senat des BVerfG in jahrzehntelangen Laubsägearbeiten in Karlsruher Beratungszimmern zurechtgezimmert. Danach kann jedermann die Geldpolitik von Bundestag, Bundesregierung oder Bundesbank und so mittelbar auch die Geldpolitik der EZB mit der Verfassungsbeschwerde angreifen. Wo zu viel oder kompetenzwidrig Geld ausgegeben oder versprochen wird, sind die innerstaatliche Demokratie und damit zugleich das individuelle Wahlrecht verletzt. 

Dieser verfassungsjuristisch introvertierten Binnenlogik ist mit handwerklichen Mitteln nur begrenzt beizukommen. Wichtiger war und ist deshalb die in der Vergangenheit in den abweichenden Voten zu den Vorläuferentscheidungen des BVerfG auch deutlich formulierte Warnung vor der eigenen Hybris. Kann tatsächlich ausgerechnet ein Gericht, noch dazu ein nur mitgliedstaatliches, die Geldpolitik der EZB effektiv kontrollieren? Geht es hier tatsächlich um Fragen des individuellen Wahlrechts, um konkrete Grundrechtseingriffe oder – in der neuesten Facette der bundesverfassungsgerichtlichen Begründungen – um die hinreichende Darlegung von Verhältnismäßigkeiten? Vermag ausgerechnet ein Gericht das Für und Wider geldpolitischer Maßnahmen der hier in Frage stehenden Dimensionen besser zu beurteilen, als dies die hierfür eigentlich verantwortlichen und vom Verfassungsgeber dafür mit entschiedener Unabhängigkeit ausgestatteten Institutionen vermögen? Ist die Kontrolle dieser Institutionen nicht letztlich eine politische, nicht aber eine originär verfassungsgerichtliche Aufgabe? Und schließlich: hat das Gericht eine Vorstellung von einer verfassungskonformen alternativen Geldpolitik und ist es bereit, für die mit dieser alternativen Politik notwendig einhergehenden unabsehbaren Konsequenzen seinerseits Verantwortung zu übernehmen?

Dass sich der Zweite Senat mit seinen selbst formulierten Ansprüchen letztlich selber übernimmt, zeigt auch das neue Urteil ein weiteres Mal. Verlangt wird letztlich dann doch kaum mehr als eine neue Begründung der alten Maßnahmen durch die EZB. Zugleich beeilt sich der Präsident des Gerichts zu versichern, dass die unter den Vorzeichen der aktuellen Krise noch einmal deutlich ausgeweiteten geldpolitischen Maßnahmen der EZB von dem Urteil nicht betroffen seien. Es gehört nicht viel dazu um vorherzusehen, dass das Urteil auf die Geldpolitik damit allenfalls einen sehr begrenzten Einfluss haben wird.

Zugleich aber – und das macht die Sache dann eigentlich erst traurig – beschädigt das Bundesverfassungsgericht nicht nur sich selbst, sondern auch die derzeit ohnehin fragile Europäische Zusammenarbeit, in dem es in das Horn der populistischen Kritiker der EU-Institutionen stößt. Vor allem seine ungezügelte Kritik am Kooperationspartner EuGH fällt auf den Senat selbst zurück. Es kann nicht überzeugen, wenn das BVerfG die vom EuGH verfolgte und von vielen auch kritischen Betrachtern letztlich für verfassungsrechtlich überzeugend angesehene Politik richterlicher Zurückhaltung in den umstrittenen Fragen komplexer geldpolitischer Steuerung in Bausch und Bogen als „nicht mehr nachvollziehbar“ und „objektiv willkürlich“ verwirft. Dies gilt umso mehr als die vom Senat reklamierte Differenz zwischen der eigenen, vermeintlich so überlegenen und der verdammten Rechtsprechung des EuGH im Ergebnis in nicht mehr als der Forderung nach einer nachgebesserten EZB-Begründung zur Verhältnismäßigkeit liegt. Wie gesagt: ein traurig stimmendes Urteil. 

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