30. September 2010

Maximilian Steinbeis

Versicherungen dürfen ihre Welt nicht in Männlein und Weiblein sortieren

Da wird die FAZ morgen wieder fauchen.

Juliane Kokott, die unerschrockene Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof, plädiert dafür, die Richtlinie 2004/113 zum Verbot von Diskrimierungen aus Gründen des Geschlechts zu kippen – weil sie diskriminierend sei aus Gründen des Geschlechts.

Es geht um das ewige Streitthema Versicherungsverträge: Dürfen Versicherungen unterschiedliche Leistungen und Prämien anbieten, je nachdem, ob man männlichen oder weiblichen Geschlechts ist?

Muss ein Mann mehr für eine Kfz-Versicherung zahlen als seine Frau, nur weil statistisch Männer mehr Unfälle bauen als Frauen? Darf eine Risikolebensversicherung von Frauen höhere Beiträge verlangen, nur weil statistisch Frauen eine höhere Lebenserwartung haben?

Verschwurbelter Scheinkompromiss

Die Richtlinie sieht dazu eine reichlich verschwurbelte Scheinkompromisslösung vor: Bei Verträgen ab 21. Dezember 2007 dürfen geschlechtsspezifische Faktoren nicht mehr zu unterschiedlichen Prämien oder Leistungen führen, heißt es in Art. 5 Abs. 1.

Wie schön, denkt man da. Und liest weiter. Und erfährt in Abs. 2, dass die Mitgliedsstaaten solche proportionalen Differenzierungen trotzdem zulassen können,

wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.

Mit anderen Worten: Mit Ausnahme der Kosten der Schwanger- und Mutterschaft (Abs. 3) dürfen die Mitgliedsstaaten bei Versicherungsprämien eben doch Frauen und Männer diskriminieren, solange sie das nur versicherungmathematisch sauber tun.

Dies, so Kokott, verstößt gegen den primärrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen:

In einer Union des Rechts, welche die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte, der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung zu ihren obersten Prinzipien erklärt hat, wäre es zweifelsohne in höchstem Maße unangebracht, wenn etwa im Rahmen der Krankenversicherung ein unterschiedliches Risiko von Hautkrebserkrankungen mit der Hautfarbe des Versicherten in Verbindung gebracht und ihm deshalb entweder eine höhere oder eine niedrigere Prämie abverlangt würde.

Von Äpfeln und Birnen

Statistik ist eine zweischneidige Sache. Statistik suggeriert, dass gar keine Diskriminierung im Spiel sein könne. Dass da mit mathematischer Präzision Korrelationen gemessen werden, an denen doch niemand schuld ist. Statistik besagt: Das ist eben so.

Aber nichts ist eben so. Äpfel sind nicht Äpfel und Birnen nicht Birnen, solange es nicht jemanden gibt, der beide miteinander vergleicht.

Es gibt immer jemanden, der festlegt, was mit wem verglichen werden soll.

Genauso ist das auch mit der Versicherungsmathematik: Dabei geht es darum, zu ermitteln, wie wahrscheinlich es wohl ist, dass das zu versichernde Risiko bei dem einzelnen Versicherten eintreten wird. Man kann sagen: Aha, der ist ein Mann. Wir wissen, dass jeder x-te Mann einen Unfall baut. Wahrscheinlichkeit also 1/x.

Ich kann aber auch sagen: Aha, der verhält sich so und so. Wir wissen, dass jeder x-te, der sich so verhält, einen Unfall baut. Wahrscheinlichkeit also 1/x.

Beides ist Statistik, saubere, kühle, korrekte Statistik. Die eine ist diskriminierend, die andere nicht.

Das dekliniert die Generalanwältin ganz streng durch: Es sei mitnichten ein felsenfester Fakt, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung und im Straßenverkehrsverhalten tatsächlich auf das Geschlecht zurückzuführen seien. Das war vielleicht früher so, wo festgefügte Rollenbilder dafür sorgten, dass sich Frauen wie Frauen und Männer wie Männer verhalten.

Heute dagegen müsse man davon ausgehen, dass sich jeder verhält, wie er oder sie will. Und deswegen müsse man auch das Verhalten und die Lebensumstände zugrunde legen, um das Risiko zu ermitteln, und nicht das Geschlecht. Mühsam? Teuer? Schon möglich:

Zugegebenermaßen lässt sich eine Differenzierung nach dem Geschlecht in Versicherungsprodukten besonders leicht in die Tat umsetzen. Die korrekte Erfassung und Bewertung wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten sowie der Lebensgewohnheiten von Versicherten ist ungleich komplizierter und lässt sich auch schwerer nachprüfen, zumal diese Faktoren im Lauf der Zeit Änderungen unterliegen können. Praktische Schwierigkeiten allein rechtfertigen jedoch nicht, gewissermaßen aus Bequemlichkeitsgründen auf das Geschlecht der Versicherten als Unterscheidungskriterium zurückzugreifen.

Übergangsfrist

Wenn der EuGH der Empfehlung der Generalanwältin folgt und Art. 5 II der Richtlinie für ungültig erklärt, dann könnte das erdbebenhafte Folgen haben: Dann wären Millionen von Versicherungsverträgen, die nach Geschlechtern diskriminieren, plötzlich ihrer Rechtsgrundlage beraubt.

Deshalb schlägt die deutsche Generalanwältin vor, die Wirkung des Urteils auf zukünftige Verträge zu beschränken und obendrein den Mitgliedsstaaten und Versicherungen drei Jahre Frist zu geben, ihre Gesetze bzw. Prämien anzupassen.

Eine solche Übergangsfrist ist beim EuGH, anders als beim BVerfG, die ganz große Ausnahme (mehr dazu hier).

In diesem Fall scheint mir aber diese Begrenzung der Wirkung eines Nichtigkeitsurteils im Prinzip schon richtig.

Update 1.3.2011: Der EuGH ist dem Votum der Generalanwältin heute, auch in punkto Übergangsfrist, gefolgt.

Foto: Lisa Norwood, Flickr Creative Commons

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