24. Oktober 2015

Lukas Müller

VG Stuttgart: Europarecht bremst Grenzschützer

Die Bundespolizei darf im Grenzgebiet nicht verdachtsunabhängig Personen kontrollieren, um illegal Einreisende aufzuspüren. Die Regelung in § 23 Bundespolizeigesetz, die ihr im 30 km-Grenzgebiet jederzeit anlasslose Identitätsfeststellungen erlaubt, ist europarechtswidrig und daher unanwendbar. Das hat das Verwaltungsgericht Stuttgart gestern entschieden (Az. 1 K 5060/13) – ein Urteil, das in diesen Zeiten europaweiter Diskussionen um Grenzzäune und Transitzonen noch für viel Wirbel sorgen dürfte.

Geklagt hatte ein dunkelhäutiger Mann, der 2013 in einem ICE im deutschen Grenzgebiet zu Frankreich ohne Anlass kontrolliert wurde und sich in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt fühlte. Ob die Kontrolle verhältnismäßig war und ob generell gezielte Kontrollen „ausländisch“ aussehender Menschen diskriminiernd ist („racial profiling“), ließ das Gericht offen. Denn schon die Ermächtigungsnorm §23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz hielt das Gericht für rechtswidrig, weil sie gegen den Schengener Grenzkodex verstoße. Der Schengener Grenzkodex ist eine im Jahre 2006 erlassene EU-Verordnung (Nr. 562/2006), die das Ziel verfolgt, die Politiken zur Kontrolle der Außen- und Binnengrenzen innerhalb des Schengen-Raumes zu regeln.

Das VG Stuttgart argumentiert, dass der Schengener Grenzkodex verdachtsunabhängige Personenkontrollen im Grenzgebiet zu anderen Schengen-Staaten verbietet, soweit solche Maßnahmen die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben. Für anlasslose Personenkontrollen ist somit nur dann Raum, wenn diese tatsächlich nicht die Kontrolle der Grenze bezwecken und sich äußerlich auch eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden, d.h. insbesondere nur stichprobenartig durchgeführt werden. Kein Problem hat das Gericht auch mit Kontrollen, die aufgrund konkreter Informationen oder Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit angeordnet werden, insbesondere der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Das Gericht stützte sich dabei auf eine Entscheidung des EuGH, der im Jahr 2010 in einem französischen Fall diese Linie vorgegeben hatte (EuGH, Urt. v. 22.06.2010 – C-188/10 und C-189/10 „Melki und Abdeli“): Die Ermächtigungsnorm lenke das Handeln der Behörden nicht ausreichend. Um zu verhindern, dass Personenkontrollen die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen entwickeln, verlangt der EuGH nämlich konkret, dass den nationalen Polizeigesetzen verbindliche Anhaltspunkte über die Häufigkeit und Intensität der Kontrollen zu entnehmen sind, was in §23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz offensichtlich nicht der Fall ist. Aus diesem Grund läuft momentan ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland (vgl. BT-Drucks. 18/4149), dessen Ergebnis noch aussteht.

Der Entschluss der Bundesregierung, vor einigen Wochen die Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen des Schengen-Raums vorübergehend wieder einzuführen, ist allerdings durch das Urteil nicht berührt. In diesem Ausnahmefall nämlich ist es der deutschen Bundespolizei auf Grundlage des §23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz tatsächlich gestattet, auch im 30 km-Grenzbereich Personenkontrollen durchzuführen, die faktisch wie Grenzkontrollen wirken.

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