12. Februar 2016

Maximilian Steinbeis

Völkerrechtsfreundlich heißt nicht unbedingt völkerrechtstreu

Unsere britischen Freunde werden verständig mit dem Kopf nicken bei dieser Nachricht: Dass Deutschland sich irgendwann mal völkerrechtlich zu etwas verpflichtet hat, so der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss, heißt mitnichten, dass Deutschland kraft Verfassung diese Pflicht dann auch einhalten muss. Wenn der demokratische Gesetzgeber nach Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags, so die Senatsmehrheit, es sich zu irgendeinem späteren Zeitpunkt anders überlegt, dann gibt es nichts und niemanden, das ihn verfassungsrechtlich daran hindern könnte. „Demokratie ist Herrschaft auf Zeit“, schreibt die Senatsmehrheit mit majestätischer Kürze, und den Gesetzgeber über die Dauer einer Legislaturperiode zu binden, würde dem Demokratieprinzip widersprechen. Der Gesetzgeber müsse frei bleiben, das einfache Recht so zu gestalten, wie er es für richtig hält.

Das ist im Prinzip nichts Neues und ganz konform mit dem Buchstaben des Grundgesetzes: Nach Art. 25 GG sind nur die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ vorrangig gegenüber einfachen Bundesgesetzen. Ein Gesetz, das einem früheren Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag zuwider läuft, ist aus dieser Sicht einfach nur ein Fall von Normenkollision, die nach der „Lex-Posterior“-Regel zugunsten des jüngeren Gesetzes aufzulösen ist. Das ist im Grunde seit der Reichskonkordats-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Stand der Wissenschaft und Technik.

Eine Nachricht ist der heutige Beschluss aber deshalb, weil diese Reichskonkordats-Entscheidung immerhin aus dem Jahr 1957 stammt und, so könnte man meinen, sich Gewicht und Funktion des Völkerrechts in der in Deutschland geltenden Rechtsordnung seither doch ziemlich grundlegend gewandelt hat. Das Grundgesetz, so viel ist unstrittig, verpflichtet den Gesetzgeber sehr wohl auf ein gewisses Maß an Völkerrechtsfreundlichkeit. Was wäre aber weniger völkerrechtsfreundlich als der offene Völkerrechtsbruch?

Sicher, so die Senatsmehrheit, das Grundgesetz verpflichte die öffentliche Gewalt, ein Auseinanderfallen zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Rechtslage und eine zum Völkerrechtsbruch bereite Haltung Deutschlands nach außen nach aller Möglichkeit zu vermeiden. Aber das will die Senatsmehrheit eher als Soll- denn als Muss-Vorschrift verstanden wissen und fährt dafür als ersten Grund eine Formulierung auf, die ich in ihrer ganzen Pracht zitieren will:

Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität.

Die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität! Bin ich froh, gerade ganz weit weg von der Bundesstadt Bonn zu weilen und die Seufzer des Wohlbehagens nicht anhören zu müssen, die bei der Lektüre dieser Passage die Flure der dortigen Juristenfakultät durchwehen…

Das Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit nicht als „uneingeschränkte Unterwerfung der deutschen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung“ zu verstehen, sondern vor allem als Auslegungshilfe, wenn es um Grundrechte geht: die solle man so auslegen, dass sie möglichst mit den vom EGMR und EuGH ausgelegten Grund- und Menschenrechten konform gehen, auf dass sich die überlappenden nationalen und europäischen Verfassungsordnungen nicht untereinander ins Gehege geraten.

Aber gerät man denn nicht wenigstens in Schwierigkeiten mit dem Rechtsstaatsprinzip, wenn man ein Gesetz erlässt, das man völkerrechtlich nicht hätte erlassen dürfen? Rechtsstaatlichkeit hat doch irgendwie schon damit zu tun, dass der Staat nicht tut, was er rechtlich nicht darf. Diese Sicht nimmt indessen einzig Richterin Doris König ein, die Völkerrechtsprofessorin aus Hamburg. Sie ist in ihrem Sondervotum entschieden der Ansicht, dass hier zumindest ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip besteht, das man mit der Lex-Posterior-Regel nicht aufgelöst bekommt. Das müsse nicht heißen, dass man sich nie und unter keinen Umständen von seinen völkerrechtlichen Bindungen mehr distanzieren dürfe. Aber wenn in der Abwägung das Rechtsstaatsproblem deutlich schwerer wiege als das Demokratieproblem, dann müsse das der Souveränität des deutschen Gesetzgebers doch auch verfassungsrechtlich Schranken setzen können.

Sehen wir nicht so, sagt dagegen die Senatsmehrheit. Aus dem Rechtsstaatsprinzip könne man nichts entnehmen, was der „geschriebenen Verfassung“ widerspricht. Und das täte man, wenn man annähme, dass völkerrechtliche Verträge entgegen Art. 25 GG doch irgendwie höherrangig sein könnten als einfache Gesetze.

Das Argument imponiert mir nicht besonders. Das Bundesverfassungsgericht hat schon bei viel klarerem Verfassungswortlaut Mittel und Wege gefunden, den Gesetzgeber rechtsstaatlich zu binden, wenn es das für notwendig gehalten hat. Dass es das hier nicht für notwendig hält, und zwar auf derart kategorische Weise, scheint mir schon bemerkenswert – als sei es irgendwie toll, wenn wir uns die Freiheit nehmen, unsere selbst eingegangenen völkerrechtlichen Pflichten car tel est notre plaisir zu missachten.

Wieder einmal schwingt in der Rechtssprechung des Senats ein triumphalistischer Bibber in der Stimme mit, der mir zutiefst unangenehm ist: Jawoll, sagt er, wenn wir das unbedingt wollen, dann machen wir das einfach, denn das ist Demokratie! Auch den Trick kennen wir schon: Wenn der Zweite Senat Demokratie sagt, dann meint er in Wirklichkeit Souveränität.

Er tut dies in Zeiten, wo ohnehin schon allerorten das souveränistische, wenn nicht gar nationalistische Auftrumpfen gegenüber selbst eingegangenen inter- und supranationalen Bindungen mächtig in Mode ist. Dass sich in diese Bewegung ausgerechnet die Institution einreiht, der die Hütung der offensten und dem Souveränismus abholdesten Verfassung anvertraut ist, die wir uns je wünschen könnten – das ist schon echt bitter.

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