7. September 2013

Sassan Gholiagha

Von Kosovo nach Syrien: Warum R2P bei einer Blockade im UN-Sicherheitsrat nicht weiterhilft

In der aktuellen Debatte um einen etwaigen militärischen Einsatz in Syrien wird viel von der internationalen Schutzverantwortung geredet, vielen besser bekannt als „die Responsibility to Protect“ oder R2P. Dabei offenbart sich meist ein falsches Verständnis der R2P, wie Sven Simon richtigerweise herausstellt. Ich will in diesem Beitrag zwei Aspekte herausgreifen: Was genau ist unter der R2P zu verstehen? Und welche anderen Möglichkeiten hat die internationale Weltgemeinschaft bei einer Blockade des UN Sicherheitsrates?

Es gäbe auch noch andere Fragen, die im Kontext des Syrien Konflikts durchaus diskussionswürdig wären, etwa inwieweit ein Militärschlag überhaupt sinnvoll ist und wie die oft beschworene „politische“ Lösung eigentlich aussehen könnte. Das kann ich hier nicht vertiefen.

Was also genau ist die R2P? Eine kurze historische Rückschau. In den 1990er Jahren gab es eine Reihe von teilweise katastrophal gescheiterten oder gar nicht erst durchgeführten Eingriffen der internationalen Gemeinschaft in Somalia, Rwanda oder Srebrenica, stets gefolgt von Rufen, dass „so etwas“ nie wieder geschehen dürfe. 1999 eskalierte dann im Kosovo die Lage, nachdem diplomatische Bemühungen und Verhandlungen gescheitert waren und Berichte über schwere Menschenrechtsverstöße bis hin zu ethnische Säuberungen auftauchten. Erneut sah sich die Weltgemeinschaft mit einer Situation konfrontiert, in der ein zu zögerliches oder gar kein Eingreifen unter Umständen ein neues Rwanda bedeutet hätte. Es wurde deutlich, dass ein militärisches Eingreifen unter Kapitel VII der UN-Charta, von den westlichen Staaten als ultima ratio angestrebt, jedoch keine Zustimmung im Sicherheitsrat erhalten würde.

Die NATO beschloss daher ohne Mandat des Sicherheitsrates Luftangriffe gegen Serbien zu fliegen. Dieser Entschluss wurde, wenig überraschend, von denjenigen Staaten, die auch im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen waren, scharf verurteilt. Russland brachte, kurz nach Beginn der Luftangriffe, einen Resolutionsentwurf ein, der die Angriffe verurteilen sollte. Dem Entwurf stimmten jedoch sonst nur China und Namibia zu; alle anderen zwölf Mitglieder stimmten gegen eine Verurteilung der NATO. Zwar argumentierten die NATO-Staaten in dieser Sicherheitsratssitzung und an anderer Stelle, dass es eine völkerrechtliche Legitimierung für die Militärschläge gab. Ein Untersuchungsbericht einer Unabhängigen Kommission kam jedoch zu dem Schluss, der Militärschlag sei völkerrechtlich illegal, wenngleich moralisch legitim. (Wer es genauer wissen will: Nicholas Wheeler: Reflections on the Legality and Legitimacy of NATO’s Intervention in Kosovo von 2001 erschienen in: Ken Booth (Hrsg.): The Kosovo Tragedy: The Human Rights Dimension; Frank Cass Publishers, Oxon und New York).

Entscheidend für die heutige Syrien-Debatte ist aber, was danach geschah. Im gleichen Jahr erschien vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan im Economist ein kurzer Artikel mit dem Titel Two Concepts of Sovereignty, der das Konzept staatlicher Souveränität neu fasste und dabei das Individuum in das Zentrum der UN-Charta rückte. Er wandte sich auch direkt an die Kritikerinnen und Kritiker des Kosovo Einsatzes:

 To those for whom the greatest threat to the future of international order is the use of force in the absence of a Security Council mandate, one might say: leave Kosovo aside for a moment, and think about Rwanda. Imagine for one moment that, in those dark days and hours leading up to the genocide, there had been a coalition of states ready and willing to act in defence of the Tutsi population, but the council had refused or delayed giving the green light. Should such a coalition then have stood idly by while the horror unfolded?

In Folge des Artikels und einer ähnlich gerichteten Rede Kofi Annans vor der UN Generalversammlung entstand, auf Initiative von Kanada, die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) welche sich mit eben jenem Dilemma beschäftigen sollte, wie man zukünftige „Kosovos“ und „Rwandas“ verhindern kann. Ergebniss der Kommission war ein umfangreicher Abschlussbericht mit dem Titel „The Responsibility to Protect“ (Mehr Hintergrund hier). Entscheidend war der Weltgipfel 2005, dessen Abschlussdokument in § 138 und § 139 auf die R2P Bezug nahm.

Auch wenn die Ausführungen der ICISS deutlich detaillierter sind und an einigen Stellen weitergehen als der Beschluss der Generalversammlung: Für die UN und die internationale Staatengemeinschaft sind diese beiden Paragraphen entscheidend für die Debatte um die R2P und deren Anwendung. Im Syrien wie im Kosovo ist und war hierbei vor allem eines entscheidend: Der UN Sicherheitsrat bleibt zunächst das Organ, das die Autorität besitzt, eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit festzustellen und militärische Aktionen jenseits der Selbstverteidigung nach §51 UN-Charta zu erlauben. Er muss von Fall zu Fall entscheiden, ob militärisch eingegriffen wird oder nicht. Einen festgelegten Kriterienkatalog gibt es nicht. Daraus folgt aber auch, dass die R2P in ihrer verabschiedeten Form keine Möglichkeit und noch weniger eine neu geschaffene Rechtsgrundlage für ein militärisches Eingreifen bietet (hier sei nochmals auf die völkerrechtlich detailliertere Analyse von Sven Simon verwiesen). Inwieweit es sich bei der R2P um eine Norm (politischer oder rechtlicher Art) oder um ein „Konzept“ oder ein argumentatives Moment handelt, bleibt auch weiterhin gleichermaßen umstritten wie die Bedeutung der R2P an sich.

Dies führt nun zur zweiten Frage: Was kann die internationale Gemeinschaft tun, wenn der UN-Sicherheitsrat angesichts humanitärer Katastrophen wie im Kosovo und in Syrien blockiert ist? Diese Frage ist alles andere als neu. Bereits kurz nach der Gründung der Vereinten Nation wurde deutlich, dass durch den Kalten Krieg der UN-Sicherheitsrat in seiner Arbeit massiv gelähmt werden wurde. Dies führte dazu, dass die Generalversammlung 1950, im Kontext der Unterstützung Südkoreas im Koreakrieg, eine Resolution mit dem Titel „Uniting for Peace“ verabschiedete. Mit dieser Resolution beschloss die Generalversammlung, falls der UN Sicherheitsrat seine primäre Verantwortung für Weltfrieden und internationale Sicherheit nicht  wahrnehmen würde, sich diesen Fällen selbst anzunehmen und, falls nötig, auch die Anwendung von militärischer Gewalt zu legitimieren.

Auch die ICISS diskutierte in ihrem Bericht die Möglichkeit der Uniting-for-Peace-Resolution. Adrian Gallagher und Jason Ralph von der Universität Leeds analysieren diese Möglichkeit auch im Kontext von Syrien. Sie weisen richtigerweise darauf hin, dass auf diesem Weg ein Militärschlag keinesfalls völkerrechtlich legal werden würde. Lediglich seine Legitimität würde sich erhöhen. Solche Überlegungen für eine Uniting-for-Peace-Resolution gab es im Übrigen auch im Vorfeld der Kosovo-Intervention der NATO, wurde dann aber nicht weiter verfolgt, weil man sich der für eine solche Resolution notwendigen 2/3-Mehrheit in der Generalversammlung nicht sicher war. Gleiches muss wohl für die Situation in Syrien gelten.

Der G20-Gipfel in St. Petersburg scheint nicht zu einer weiteren Annäherung zwischen Russland und der USA beigetragen zu haben. Im Syrien-Konflikt ist es also mit dem Verweis auf die R2P keinesfalls getan. Die Situation in Syrien zeigt aber darüber hinaus, dass das Dilemma, das die R2P eigentlich lösen sollte, weiterhin besteht: Bei einer Blockade im UN Sicherheitsrat gibt es keine völkerrechtskonforme Möglichkeit eines Militärschlags.

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