Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des Sexualstrafrechts vorgestellt, der am 28. April im Bundestag beraten wird. Mit ihm sollen „besonders drängende“ Schutzlücken geschlossen werden, welche primär darauf beruhen, dass die sexuelle Selbstbestimmung im deutschen Recht eine Sonderstellung hat, da sie im Gegensatz zu anderen Rechtsgütern nur unter sehr engen Voraussetzungen strafrechtlich geschützt ist. So gibt es für Rechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit (einfache, gefährliche und schwere Körperverletzung) oder das Eigentum (Diebstahl, schwerer Diebstahl und Raub) einen Grundtatbestand und Strafschärfungsgründe, während bei der sexuellen Selbstbestimmung nur besondere Verletzungen erfasst sind (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung), ein Grundtatbestand fehlt. Das ist auch der wesentliche Grund dafür, dass es bspw. keinen Rechtsschutz gegen sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit gibt. Überdies liest die Rechtsprechung systemwidrig – beim rechtstechnisch parallelen Raubtatbestand geschieht dies nicht – das Erfordernis von Widerstand ins Gesetz hinein und sie wendet einen Teil des einschlägigen Paragraphen praktisch gar nicht an.
Diese Rechtslage ist aus mehreren Gründen problematisch: Die Schlechterstellung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung ist verfassungsrechtlich nicht haltbar, die Fokussierung der Rechtsprechung auf zu leistenden Widerstand verletzt völkerrechtliche Verpflichtungen, die Bundesrepublik kann einen wichtigen menschenrechtlichen Gewaltschutzvertrag (Istanbul-Konvention) nicht ratifizieren, solange ein umfassender Schutz der sexuellen Autonomie fehlt, und der Umgang des Bundesgerichtshofs mit den Ergebnissen der großen Sexualstrafrechtsreform von 1997 wirft Fragen nach Gesetzesbindung und Rechtsstaat auf. Dessen ungeachtet hat sich die Bundesregierung nicht für einen gleichwertigen Schutz der sexuellen Autonomie entschieden, sondern schafft einen weiteren Sondertatbestand, welcher mehr als die Hälfte der Betroffenen (nämlich alle, die sich nicht physisch wehren) mit Geschäftsunfähigen gleichsetzt und dann nur einige von ihnen schützt.
Einem adäquaten Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ist in den letzten 120 Jahren schon so ziemlich alles entgegengehalten worden. Aktuell ist es „die Unschuldsvermutung“, also die Behauptung, bei Sexualdelikten gäbe es hauptsächlich Falschanzeigen. Derzeit liegt die Falschanzeigenquote bei 3%. Ältere Studien (1985 bis 2005) gehen von 2% bis 8% aus. Eine beliebte bayerische Studie bestätigt zunächst den Grundsatz, dass vorheriges Lesen sich lohnt. Die blind zitierten zweistelligen Zahlen geben lediglich wieder, woran einige Mitglieder der bayerischen Polizei glauben, was primär nur akuten Fortbildungsbedarf ausweist. Die tatsächlich mit der Studie erhobene Falschanzeigenquote liegt bei 7,3%, ist also trotz methodischer Unschärfen nicht sehr spektakulär. Doch Zahlenschlachten führen auch nicht weiter, denn: Jede Falschanzeige ist eine zu viel. Sie bringt oft großes Leid über die betroffenen angeblichen Täter und muss mit aller Härte unterbunden werden. Weil Unrecht nicht durch Unrecht bekämpft werden kann, folgt daraus aber kein Argument gegen einen adäquaten Schutz der sexuellen Selbstbestimmung.
Jeder nicht gesühnte sexuelle Übergriff ist einer zu viel. Sexualisierte Gewalt kann zu unmittelbaren Verletzungen führen, aber auch weitere Beschwerden nach sich ziehen wie Migräne, Magendarmprobleme, Erbrechen, Herzrasen, Hautkrankheiten, Depressionen, Panikattacken, Schlafstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität, sie kann Suchterkrankungen und Arbeitslosigkeit verursachen sowie Sexualität und reproduktive Gesundheit dauerhaft beeinträchtigen. Nur 5-10% der strafbaren sexuellen Übergriffe werden angezeigt, die Verurteilungsquote ist von 20% in den 1980er Jahren auf nunmehr 13% gefallen. Damit wird nur 1 von 100 derzeit strafrechtlich relevanten sexuellen Übergriffen in Deutschland tatsächlich gesühnt. Die Lüge über horrende Falschanzeigenquoten leistet dazu ihren Beitrag.
Den Opfern nicht zu glauben, hat eine sehr lange Tradition und ist ein tief verwurzelter Vergewaltigungsmythos, der effektiv verhindert, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Wer den rechtsstaatlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung nur benutzt, um Betroffene weiter mundtot zu machen, beteiligt sich daran. Die Anzeigequoten sind im europäischen Vergleich bereits unterdurchschnittlich. Sexuelle Autonomie ist vom Strafgesetz schlechter geschützt als körperliche Unversehrtheit oder Eigentum. Dabei ist der Schutz der sexuellen als zutiefst persönlicher Integrität auch Basis für den Genuss aller bürgerlichen Rechte, für die Teilhabe am öffentlichen Leben und für persönliche Entfaltung. Die derzeitige Gesetzeslage wirft Fragen nach dem verfassungsrechtlichen Untermaßverbot auf.
Anlass der aktuellen Gesetzesinitiative war aber nicht die Verfassung, sondern die Istanbul-Konvention. Deren Artikel 36 verlangt, dass ein Straftatbestand geschaffen wird, der alle nicht einverständlichen sexuellen Handlungen unter Strafe stellt. Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der betreffenden Person gegeben werden, wobei die nationalen Gesetzgeber die Anforderungen genauer beschreiben sollen. Dies meint nicht, dass sie entscheiden könnten, welche Fälle nicht einverständlicher sexueller Handlungen sie für strafwürdig halten und welche gerade nicht. Vielmehr geht es um Erfahrungen auf internationaler Ebene mit der Verfolgung sexualisierter Kriegsgewalt und der Behauptung des Einverständnisses unter Umständen, die eine freie Willensbildung offensichtlich ausschlossen. Geregelt werden darf lediglich, dass in bestimmten Fällen ein faktisches Einverständnis rechtlich als fehlendes Einverständnis gewertet wird, weil die Mindestbedingungen anzuerkennender Willensbildung nicht vorliegen (Minderjährige, Bewusstlose, Gefangene etc.). Ferner sollen die Gesetzgeber über technische Umsetzungsdetails und Strafhöhen im Einklang mit nationalen Gepflogenheiten entscheiden können (siehe Vorschläge von DIMR, djb, Grünen).
Für das Einverständnis niemals relevant ist die Frage, ob Betroffene Widerstand geleistet haben. Dies entspricht auch der seit 1985 für Deutschland verbindlichen UN-Frauenrechtskonvention, deren Ausschuss erläutert: „there should be no assumption in law or in practice that a woman gives her consent because she has not physically resisted the unwanted sexual conduct, (…) rape constitutes a violation of women’s right to personal security and bodily integrity, and its essential element is lack of consent.“ Das Erfordernis von Widerstand ist wie jede Erwartung an ein „ideales“ Opferverhalten ein Vergewaltigungsmythos, der Täter begünstigt und Strafverfolgung behindert. Seit Jahrzehnten belegen sozialwissenschaftliche sowie Trauma- und Gewaltforschung, dass Reaktionen auf sexuelle Übergriffe selbst für die eigene Person nicht vorhersagbar sind, und dass Widerstand empirisch recht selten, vielmehr der Verzicht darauf verbreitet (=normal) ist, um raptive Gewalt in minderem Maße zu erleiden und der psychischen Zerstörung zu entgehen. Eine Verurteilung wegen Raubes ist übrigens noch nie an der fehlenden Verteidigung des Eigentums gescheitert.
Obwohl Widerstand keine Voraussetzung einer strafbaren Vergewaltigung nach § 177 Strafgesetzbuch war, fügte der Gesetzgeber 1997 sicherheitshalber noch die Alternative des „Ausnutzens einer schutzlosen Lage“ hinzu. Damit sollten hilflos ausgelieferte oder vor Angst erstarrte Betroffene und Menschen mit Behinderungen effektiver geschützt werden. Innerhalb kürzester Zeit sorgte der Bundesgerichtshof allerdings dafür, dass diese Alternative nur noch auf dem Papier bestand, und erhob zugleich (rechtswidrig) Widerstand zu einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal. Angesichts dieser (nicht nur verfassungsrechtlich) äußerst fragwürdigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auffällig, dass die lauteste Stimme gegen jede Änderung des Sexualstrafrechts ausgerechnet aus dieser Richtung kommt. Neben Vergewaltigungsmythen und mangelnden Kenntnissen des Völkerrechts wird auch mit der schönen Idee aufgewartet, die gravierenden Schutzlücken doch durch eine Strafbarkeit als Beleidigung zu schließen. Das ist ungefähr so sinnvoll, wie eine Verurteilung wegen Raubes von der mannhaften Verteidigung des Eigentums abhängig zu machen und das strafwürdige Unrecht in allen übrigen Fällen darin zu sehen, dass der Räuber seine Missachtung der Betroffenen als ausraubbare Opfer konkludent kundgetan habe. Absurd? Bei sexueller Autonomie auch.
Wenn ein Unrechtszustand länger andauert, kann es geschehen, dass er als Normalität wahrgenommen wird. Dies zeigt auch der aktuelle Gesetzentwurf, welcher nicht auf fehlendes Einverständnis abstellt, sondern in einem Sondertatbestand des „sexuellen Missbrauchs“ einige Konstellationen aufzählt, in denen ein sexueller Übergriff trotz fehlendem Widerstand strafbar ist. Der Vergewaltigungsmythos des unbedingten Widerstandes wird damit als Regelfall bestätigt, und Betroffene, die sich nicht physisch wehren, werden terminologisch wie dogmatisch mit Geschäftsunfähigen gleichgestellt. Das verfehlt nicht nur Artikel 36 der Istanbul-Konvention um Längen.
Die Bundesregierung verpasst die Chance, den minderen strafrechtlichen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und die faktische Straflosigkeit sexueller Übergriffe in Deutschland durch einen großen Wurf zu beenden. Erforderlich ist ein Grundtatbestand der „nicht einverständlichen sexuellen Handlungen“, welcher sich zur Vergewaltigung so verhält wie Diebstahl zu Raub, denn die sexuelle Selbstbestimmung verdient den gleichen Schutz wie das Eigentum. Im Rechtsstaat zählt nicht, wer am schnellsten zurückschlägt. Und in der Sexualität zählt seit langem eine Verhandlungsmoral, die beidseitiges Einverständnis zur Bedingung gemeinsamer Lust macht. Auch dahinter sollte der strafrechtliche Schutz nicht zurückbleiben.