Mein jüngster Einwurf zum Thema Verfassungsrichterwahl hat, juhuh!, eine kleine Kontroverse ausgelöst, die absolut kleinstmögliche Kontroverse genauer gesagt, nämlich zwischen mir und zwei (von zwei) Kommentatoren, aber immerhin: Anlass, sich genauere Gedanken zu machen.
Ich bin für eine öffentliche Debatte über Werk und Person von Verfassungsrichter-Kandidaten, bevor diese ins Amt gewählt werden. Warum?
Legitimation
Es heißt in dieser Debatte gerne, die Verfassungsrichter seien durch die Qualität ihrer Arbeit gewissermaßen im Nachhinein legitimiert – Output-Legitimation ist, wenn ich mich nicht irre, der politikwissenschaftliche Terminus dafür.
Da ist insofern was dran, als tatsächlich unleugbar das BVerfG von allen Verfassungsorganen das höchste Ansehen genießt, und das seit Jahrzehnten relativ konstant. Sind doch alle hoch zufrieden, könnte man sagen. Legitimationsproblem, was für ein Legitimationsproblem?
Aber so einfach ist das nicht. Zum einen geht es nicht nur um die Zufriedenheit der Leute im Lande. Sondern auch um das Gewicht, das eine Institution im Verhältnis zu anderen Institutionen auf die Waage bringt.
Autorität
Das Bundesverfassungsgericht kann keine Gerichtsvollzieher losschicken, um seine Ratschlüsse vollstrecken zu lassen. Es ist darauf angewiesen, dass seine institutionellen Konterparts ihm auch so folgen – insbesondere diejenigen, deren Arbeit das BVerfG am Maßstab des Grundgesetzes misst und gegebenenfalls korrigiert, also die Politik und die Justiz.
Was die Justiz betrifft, so ist es schon auffällig, dass immer mehr Obergerichte in jüngerer Zeit den Karlsruher Vorgaben offen und hartnäckig die Gefolgschaft verweigern (zuletzt etwa das OLG Oldenburg). Und Urteile wie das zum Lissabon-Vertrag kann das BVerfG auch nicht mehr oft bringen, ohne den Respekt, den es in der Politik genießt, ernsthaft aufs Spiel zu setzen.
Natürlich, unter den Richtern sind immer mal wieder welche, deren intellektuelle Kapazität weit über das sonst im politischen Raum anzutreffende Normalmaß hinausragt. Aber das ist erstens keinesfalls durchläufig der Fall und tut zweitens nichts zur Sache. Paul Kirchhof war (und ist) zweifellos ein Superbrain, aber der Autorität des BVerfG hat das nicht immer gut getan, um’s mal vorsichtig auszudrücken…
Philosophenkönige
Zum anderen ist keineswegs ausgemacht, dass die hohen Zufriedenheitsquoten des BVerfG unbedingt etwas mit der konkreten Arbeit des Gerichts zu tun haben. Es gab ja auch Zeiten, wo sich alle Welt furchtbar aufregen musste über die Richtersprüche aus Karlsruhe – ich erinnere nur an das Jahr 1995 mit dem Kruzifix- und dem Soldaten-sind-Mörder-Urteil. In den Umfragen zum Ansehen der Institution hat sich das kaum oder gar nicht niedergeschlagen.
Mir scheint die Vermutung nicht fernliegend, dass sich das hohe Ansehen des Gerichts auch noch aus ganz anderen Quellen speist als der Anerkennung für die hohe Qualität seiner Rechtsprechung. Deutschland ist das Land der Professorenhörigkeit. Die Vorstellung, durch Ausgleich von auseinanderstrebenden Interessen Politik zu machen, hatte es hierzulande schon immer schwerer als etwa in der angelsächsischen Welt. Hier herrscht immer noch die platonische Sehnsucht nach Philosophenkönigen vor, die ihre Entscheidungen aus höherer Weisheit heraus treffen statt durch Kompromiss und Verhandlung.
Das Bundesverfassungsgericht, zur Hälfte aus Universitätsgelehrten bestehend, mit seinen günstigenfalls bestechend scharfsinnigen und differenzierten, schlechterenfalls lähmend ausführlichen und wolkigen Urteilsbegründungen bedient diese antipluralistische Sehnsucht, ob es will oder nicht.
Deliberation
Aber ich bin auch noch aus ganz anderen Gründen gegen das gegenwärtige intransparente und entmündigende Verfahren der Verfassungsrichterwahl.
Wir haben hierzulande zu wenig Debatten über unsere Verfassung. Wir haben 1949 nicht darüber debattiert, was für ein Grundgesetz wir bekommen. Wir haben 1990 nicht darüber debattiert. Wir führen kaum je einen Wahlkampf über verfassungspolitische Themen. Und Plebiszite gibt es bekanntlich auch keine. Das finde ich im Prinzip auch in Ordnung, jedenfalls glaube ich anders als viele nicht daran, dass alles prima würde, wenn wir nur mehr direkte Demokratie hätten.
Aber der Befund bleibt: Die Selbstvergewisserung, die darin liegt, sich tüchtig über die Verfassungsgrundlagen von Politik und Recht zu kloppen, versagen wir uns. Und das ist nicht gut für uns.
Die Urteile des BVerfG sind, auch wenn sie ad hoc viel Aufmerksamkeit und kommentatorische und exegetische Aktivität erregen, nur selten Anlass zu einer längeren öffentlichen Auseinandersetzung (Ausnahmen wie Lissabon bestätigen die Regel). Im Normalfall beenden sie einen Streit, und das ist auch gut so.
Um so mehr wäre es nötig, diese Auseinandersetzung um die Verfassung abstrakt und ex ante zu führen – insbesondere, wenn es um die Personen geht, denen wir das Urteil darüber anvertrauen, „what the constitution is“. Wir sollten uns Gedanken machen, was uns wichtig ist und was der Kandidat wohl dazu denkt. Wir sollten uns ansehen, was der Kandidat so alles veröffentlicht hat, was er geschrieben und gesagt hat, und unsere Schlüsse daraus ziehen. Wir sollten uns eine Meinung zu ihm oder ihr machen und uns heftig darüber streiten.
Das wäre gemein gegenüber den Kandidaten? Die besten Leute würden sich einer solchen öffentlichen Durchleuchtung niemals unterziehen? Dass ich nicht lache. Den Staatsrechtsprof möchte ich sehen, der nicht springt, wenn im ein Job in Karlsruhe winkt. Und wenn er sich tatsächlich zu fein dafür ist, über seine Positionen der Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen, dann ist es um ihn auch nicht schade.
Der Fall Dreier
Natürlich gibt es in den USA Ansschauungsmaterial genug, dass die Anhörungen zur Richterwahl für Schmutzkampagnen missbraucht werden und sich die Opposition bemüht, allerhand Unappetitliches über den Kandidaten zutage zu fördern. Das will man natürlich nicht haben.
Aber diese Gefahr wäre hier viel kleiner. Erstens sind wir nicht so bigott und mit moralisierenden Lebenswandel-Enthüllungen schwerer zu beeindrucken wie viele Amerikaner. Zweitens wandeln sich auch in den USA die Zeiten; dass sechs von neun Supreme-Court-Justices Katholiken sind, wäre vor ein paar Jahrzehnten auch noch undenkbar gewesen. Drittens: Wenn tatsächlich bei der Anhörung zu einem Verfassungsrichter-Kandidaten eine Professorin aufträte, die aussagt, der Kandidat habe sie über längere Zeit mit widerlichsten sexuellen Anspielungen belästigt, dann… öhm… dann wäre ich auch echt dagegen, dass der Typ Verfassungrichter wird?
Jetzt hatten wir mit Horst Dreier ja tatsächlich jüngst so etwas wie eine öffentliche Debatte anlässlich einer Verfassungsrichterwahl. Die SPD wollte Dreier als Nachfolger von Winfried Hassemer im Vorsitz des Zweiten Senats und künftigen Präsidenten des Verfassungsgerichts. Daraus wurde nichts, weil die Union ihn ablehnte und plötzlich eine Debatte losbrach, ob Dreier ein Apologet der Rettungsfolter ist (was er wohl nicht ist). Da kann man mal sehen, wohin sowas führt, schallt es allenthalben: Ein ehrbarer Staatsrechtler wird mit Verleumdungskampagnen überzogen und die Öffentlichkeit hinters Licht geführt.
Kann sein, dass Dreier Unrecht widerfahren ist. Aber in einem offeneren Verfahren wäre die Debatte auch anders abgelaufen. Da wäre die Union mit ihrem Doppelspiel (in Wahrheit war ihr wohl eher Dreiers liberale Haltung in der Stammzellendebatte ein Dorn im Auge) nicht so ungeschoren davongekommen. Und dass sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob das Grundgesetz zum Schutz von Menschenleben im Extremfall auch Folter legitimiert, gelohnt hat, das lässt sich schwerlich bestreiten.
So, und jetzt wäre ich froh, wenn mehr als zwei Kommentatoren mir meine Irrtümer und Fehleinschätzungen um die Ohren hauen.