Verhüllende Bekleidung wie der Hidschab (das Haare, Hals und Teile der Stirn abdeckende Kopftuch) signalisieren die Zugehörigkeit zu einer islamischen Glaubensrichtung. Gleichzeitig handelt es sich um eine Sittsamkeitspraktik, die europäische Gesellschaften mit der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ konfrontiert: Es kehren Erwartungen an die „ehrbare“ Frau zurück, die diesen Status durch ihr Auftreten nach außen demonstrieren soll. Verfassungsrechtlich wird darüber diskutiert, in welchen Kontexten rechtliche Verbote zu begründen sind. In ihrem Beitrag zum Verfassungsblog spricht sich Aquilah Sandhu dafür aus, dass das Tragen eines Hidschab in der Rolle einer Richterin zulässig sein müsse.
Frau Sandhu hat 2015 vor dem Verwaltungsgericht Augsburg geklagt, weil ihr bei Zulassung zum juristischen Vorbereitungsdienst durch eine Auflage untersagt worden war, bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung, etwa Sitzungsdienst der Staatsanwaltschaft oder Zeugenvernehmung, „Kleidungsstücke, Symbole und andere Merkmale“ zu tragen, „die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität der Dienstausübung“ zu beeinträchtigen. Das erstinstanzliche Urteil (das Rechtsmittelverfahren ist offenbar noch nicht abgeschlossen) gab der Klägerin deshalb Recht, weil bislang das für den Grundrechtseingriff erforderliche Parlamentsgesetz fehlt (VG Augsburg, Urteil vom 30.06.2016 – Aktenzeichen Au 2 K 15.457). Rechtspolitisch gesehen ist die Frage, ob von einer gesetzlichen Verbotsnorm abzusehen ist, weil diese verfassungswidrig wäre. Das Verwaltungsgericht Augsburg, das nur auf den Gesetzesvorbehalt abstellt, deutet in einem Satz das Gegenteil an: Es liege nahe, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit durch das Tragen eines religiös motivierten Kopftuchs gefährdet werde (a.a.O., Rn. 57).
Unstreitig ist der Ausgangspunkt: Auf grundrechtliche Freiheitsrechte können sich auch Personen im Richteramt berufen. Einschlägig ist auf jeden Fall Art. 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit). Streiten könnte man sich darüber, ob auch das Recht auf Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) heranzuziehen ist. Der Wortlaut lässt es zu, den Schutzbereich auf religiöse Zeremonien und religiöse Handlungen zu beschränken. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht eine weite Auslegung festgeschrieben, die Alltagshandlungen und die Bekleidung in beruflichen Kontexten einschließt (s. die Nachweise in BVerfGE 138, 296, Rn. 85 ff.). Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, dass religiöse Bedürfnisse absolut und kontextunabhängig vorrangig sind. Auch nach den religionsfreundlichen Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts ist Religionsausübung einschränkbar, wenn eine Gefahr für die Grundrechte Dritter oder Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang besteht (a.a.O., Rn. 98). Die zentrale Frage ist also: Gibt es Allgemeininteressen mit Verfassungsrang, die es rechtfertigen, Richterinnen das Tragen eines Hidschab zu untersagen?
Frau Sandhu vertritt, dass es kein hinreichend gewichtiges Interesse am neutralen Auftritt von Richtern gebe. Entgegenlautende Überlegungen würden auf „Putativgefahren“ verweisen, es werde „aufgrund subjektiver Fehlvorstellungen auf eine objektiv nicht bestehende Gefahrenlage geschlossen“. Der Erwerb der Befähigung zum Richteramt im vorgeschriebenen Ausbildungsgang müsse genügen. Sie geht nicht auf § 39 DRiG ein („Der Richter hat sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird“). Ihre Ausführungen implizieren aber, dass diese Norm aufzuheben sei. Ein Richter müsse lediglich für sich selbst „gewissenhaft prüfen, ob er ausreichend Distanz und Neutralität zur konkreten Rechtsfrage aufbringen kann und sich im Zweifel selbst ablehnen“; wer dies nicht tue, dem drohe die „Schelte der Rechtsmittelinstanz“ oder unter Umständen Strafe wegen Rechtsbeugung.
Damit unterschätzt Frau Sandhu die Bedeutung von Neutralität und Vertrauen für die Justiz in demokratisch verfassten Rechtsstaaten. Ein Merkmal eines funktionierenden Rechtsstaates ist, dass nicht nur angestrebt wird, sondern es auch tatsächlich gelingt, mit Gerichtsentscheidungen Konflikte zu beenden. Dies setzt in freiheitlich-demokratischen Systemen voraus, dass Akte der Justiz auf breite Akzeptanz stoßen, die nur dann zu sichern ist, wenn der Richterschaft Vertrauen entgegengebracht wird. In Diktaturen oder in Staaten mit besonders fest verankerten Eliten mag es effektive Macht ermöglichen, breiten Rückhalt in der Bevölkerung als überflüssig zu erachten. Die Handlungsbedingungen für die Justiz in normativ egalitären, demokratischen Staaten sind jedoch komplizierter. Konflikte sind nicht durch das bloße Faktum des Entscheids durch eine Autoritätsperson abzuwürgen, sondern es bedarf der befriedenden Konfliktbeendigung. Dies erfordert, dass die freiwillig oder unfreiwillig von Gerichtsentscheidungen betroffenen Personen ein bestimmtes Maß an Vertrauen in die Richtigkeit haben. Vertrauen in die Richtigkeit der Entscheidung beruht aus der Perspektive der Betroffenen, die in der Regel nicht selbst rechtskundig sind, zu wesentlichen Teilen auf Vertrauen in die Unparteilichkeit der Richter. Es ist schwer, in quantifizierender Weise anzugeben, wieviel Vertrauen erforderlich ist und welches Maß an Misstrauen (das es natürlich immer geben wird) unterhalb einer schädlichen Schwelle bleibt. Für meine Argumentation muss der Verweis auf generelle Zusammenhänge genügen.
Vertrauen ist in sozial, kulturell und religiös fragmentierten Gesellschaften leicht zu erschüttern, wenn sich Richter im Gerichtssaal in augenfälliger Weise als Angehörige einer sozialen, kulturellen oder religiösen Gruppe zu erkennen geben. Vor allem diejenigen, die sich als Verlierer sehen, etwa weil sie in einem Zivilprozess unterliegen oder in einem Strafprozess Angeklagte sind, sind für Signale empfänglich, die auf eine ihnen ungünstige Vorprägung der entscheidenden Richter deuten. Die dritte Gewalt muss in ihren Begegnungen mit realen Menschen funktionieren, weshalb es nicht überzeugt, in diesem Kontext auf den normativ konstruierten „besonnenen Verfahrensbeteiligten“ (so Frau Sandhu) abzustellen. Es wäre wünschenswert, wenn im Vertrauen auf allseitig praktizierte Toleranz und Zurückhaltung Gruppenzugehörigkeiten im Gerichtssaal nicht mehr als relevant wahrgenommen würden – aber es wäre realitätsfremd, unbedingtes Vertrauen aller in die Unvoreingenommenheit oder Selbstdisziplin aller anderen vorauszusetzen.
Repräsentanten der Justiz müssen in einer nicht perfekten Welt deshalb schon den Anschein vermeiden, Vertreter von Partikularinteressen zu sein. Die Richterrobe sollte weder mit sichtbaren religiösen Symbolen kombiniert werden noch mit anderen augenfälligen Bekenntnissen zu politischen, moralischen, sozialen oder kulturellen Gruppen. Ein exklusiver Fokus auf die religiöse Signifikanz von verhüllender Bekleidung verkennt dabei einen Teil der Probleme. Über den Faktor „erkennbare Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft“ hinaus kann unter bestimmten Umständen das Vertrauen in die Neutralität einer Richterin auch dadurch beeinträchtigt werden, dass ihre Kopfverhüllung traditionelle sexualmoralische Vorstellungen zum Ausdruck bringt. Auch wenn mit der eigenen Sittsamkeitspraktik keinerlei Anspruch verbunden ist, andere dazu zu bekehren, ist es unter den Bedingungen fragmentierter Gesellschaften problematisch, deutlich sichtbar partikulare Moralvorstellungen und/oder Religionszugehörigkeit auszudrücken.
Wer nicht bereit ist, auf auffallende Symbole gruppenbezogener Identität zu verzichten, kann nicht ein Richteramt beanspruchen. Dies gilt auch, wenn Anwärter ernsthaft und glaubwürdig versichern, ihre Zugehörigkeiten bei konkreten Entscheidungen ausblenden zu können. Zu der verantwortungsvollen Richterrolle gehören nicht nur die fachliche Ausbildung und die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, sondern auch Verständnis für die Funktionsbedingungen, die für das System Justiz von zentraler Bedeutung sind. Richter müssen sich der Fragilität des Vertrauens in die Justiz bewusst sein, und sie müssen bereit sein, das eigene Auftreten daran auszurichten. Es ist kein schlüssiger Gegeneinwand, dass, worauf Frau Sandhu ausführlich verweist, die äußere Wahrung des „Anscheins der Neutralität“ trügen könne. In diesem Punkt hat sie natürlich Recht: Es ist nie auszuschließen, dass hinter dem ordnungsgemäß-neutralen Auftritt eine Persönlichkeit steht, die wenig geneigt ist, sich um Reflektion ihrer Gruppenzugehörigkeiten und innere Distanz zu ihren Vorprägungen zu bemühen. Im Kontext einer über viele Jahre kulturell-christlich geprägten Gesellschaft gibt es Beispiele für richterliche Entscheidungen, bei denen ein Zusammenhang mit entsprechenden Vorprägungen auf der Hand liegt. Aber wie immer gilt: Probleme verschwinden nicht, indem man sie gegeneinander aufrechnet. Berechtigte Kritik an manchmal schwach ausgeprägter Selbstreflexion eliminiert nicht die Einschätzung, dass Richter es unterlassen müssen, ihre Gruppenzugehörigkeiten im Gerichtssaal sichtbar zu machen. Die sich beschleunigende Entwicklung zu multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften sollte vielmehr Anlass sein, zukünftig auf allen Ebenen der Organisation von Justiz, auch in der Juristenausbildung, Verständnis für die Funktionsbedingungen zu fördern und zu äußerer Neutralität ebenso wie zu Selbstreflektion anzuhalten.