16. Juni 2022

Fabian Michl

Was darf eine Bundeskanzlerin sagen?

Zum Urteil des BVerfG in Sachen „Äußerungen der Bundeskanzlerin Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020“

Am 15. Juni 2022 hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass die Äußerungen der Bundeskanzlerin Merkel zur Thüringer Ministerpräsidentenwahl im Februar 2020 sowie die anschließende Veröffentlichung auf den Regierungswebseiten die AfD in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt haben. Merkel hatte gefordert, die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich, die mit den Stimmen der AfD zustande gekommen war, rückgängig zu machen. Der Rechtsprechung zu den Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern fügt das Urteil wenig Neues hinzu (I). Es sieht sich aber einer pointierten Kritik seiner Prämissen durch ein Sondervotum ausgesetzt (II). Insgesamt ist der Fall gekennzeichnet durch verpasste Chancen (III).

I. Wenig Neues

Der Zweite Senat setzt seine Rechtsprechung zur Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern konsequent fort und überträgt die Maßstäbe auf den – stets im generischen Maskulinum bezeichneten – Bundeskanzler: Auch er kann, wenn er materielle oder immaterielle Ressourcen des Amtes in Anspruch nimmt, durch Äußerungen die aus Art. 21 GG abgeleitete Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb beeinträchtigen. Solche Beeinträchtigungen lassen sich aber im Einzelfall rechtfertigen, wenn sie auf Gründe gestützt sind, die „durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht [sind], das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann“ (3. Leitsatz).

Dass die Äußerungen Angela Merkels zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nach diesen inzwischen etablierten Maßstäben rechtfertigungsbedürftig waren, kann nicht überraschen. Die Bundeskanzlerin äußerte sich bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten in Pretoria, wohin sie als Regierungschefin gereist war – eine „Dienstreise“, wie der Senat in auffällig beamtenrechtlicher Terminologie notiert. Sie leitete ihre Äußerungen zu Thüringen zwar als innenpolitisch motivierte „Vorbemerkung“ ein, bemühte sich aber nicht um eine explizite Bestimmung ihrer Sprecherrolle. Indem sie die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD als „unverzeihlich[en]“ Vorgang bezeichnete, der „rückgängig gemacht“ werden müsse, brachte sie eine politische Forderung zum Ausdruck, der sie (nach Auffassung der Senatsmehrheit) unter Rückgriff auf ihre Amtsautorität ein besonderes Gewicht verlieh. Die Forderung richtete sich zwar in erster Linie an ihre Partei, die CDU, war aber in eine politische Gesamtbewertung eingebettet, bei der auch die AfD nicht gut wegkam: „Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.“

Gerechtfertigt war dieser Eingriff in den Parteienwettbewerb nach Ansicht der Senatsmehrheit nicht. Zwar wurde der Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung als ebenso legitimer Grund anerkannt wie das Ansehen und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft. Doch war die Senatsmehrheit nicht davon überzeugt, dass Angela Merkels Äußerungen zum Schutz dieser Interessen geboten gewesen wären – und das trotz der Betonung eines weiten Einschätzungsspielraums.

II. Prämissenkritik

Die Rechtsprechung des Zweiten Senats zu den „verfassungsrechtlichen Grenzen der Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern“ sieht sich seit der ersten Entscheidung – dem Schwesig-Urteil aus dem Dezember 2014 – einer grundlegenden Kritik ihrer Prämissen ausgesetzt (ausführlich Payandeh [2016]; pointiert Meinel [2021]) . Die Kurzfassung lautet: Die Aufspaltung eines Regierungsmitglieds in Amtsträger und Parteipolitiker und Privatperson ist praktisch unmöglich und widerspricht den Grundsätzen des parlamentarischen Regierungssystems, in dem das Handeln der von der Parlamentsmehrheit abhängigen Regierung stets parteipolitisch geprägt ist. Die Statuierung von Neutralitätspflichten für Regierungsäußerungen verkennt den Unterschied zwischen Regierung (Gubernative) und Verwaltung (Exekutive) und läuft auf eine Entpolitisierung der Regierung durch die Orientierung des auf die Verwaltung zugeschnittenen Ideals der politischen Neutralität hinaus. Das politische Regierungsmitglied wird zum unpolitischen Beamten.

Die Richterin Wallrabenstein verleiht dieser Prämissenkritik nun mit einem Sondervotum Ausdruck, das mit seinem pointierten Duktus an die großen dissenting opinions früherer Zeiten erinnert. Überhaupt ist es erfrischend, dass ein Mitglied des Gerichts seinen Dissens publik macht, nachdem sich in den letzten Jahren der Eindruck verfestigte, die Abgabe von Sondervoten würde um jeden Preis vermieden. Dass mit Wallrabenstein die dienstjüngste Richterin des Zweiten Senats von der Möglichkeit Gebrauch machte, ihre in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederzulegen (alles Wissenswerte dazu in Kürze bei Klatt [2022]), weckt die Hoffnung, dass zukünftig Position und Gegenposition wieder deutlicher gegenübergestellt und die Argumentationslinien geschärft werden. Die Autorität des Gerichts kann davon nur profitieren.

Mit Wallrabenstein – womöglich aber aus anderen Gründen – stimmten zwei weitere Senatsmitglieder gegen das Urteil, das also mit der knappen Mehrheit von 5:3 Stimmen erging (bei 4:4 wären die Anträge der AfD zurückgewiesen worden). Bei den bisherigen Entscheidungen zu den Äußerungsbefugnissen wurde das jeweilige Stimmenverhältnis nicht mitgeteilt. Auch dieser Transparenzgewinn ist zu begrüßen, zumal er zeigt, dass die kontroverse Rechtsprechungslinie nicht in Stein gemeißelt ist.

III. Verpasste Chancen

Löst man sich vom unauflöslichen Prämissenstreit bleiben eine Reihe verpasster Chancen zu notieren. Da ist zum einen das Versäumnis (oder bewusste Unterlassen?) der damaligen Bundeskanzlerin, ihre Sprecherrolle klar zu bestimmen. Schon im Wanka-Beschluss aus dem Februar 2018 hatte der Senat darauf hingewiesen, dass es dem Amtsinhaber unbenommen sei, „klarstellend darauf hinzuweisen, dass es sich um Beiträge im politischen Meinungskampf jenseits der ministeriellen Tätigkeit handelt“ (Rn. 66). Auch diesmal bemängelte die Senatsmehrheit, dass Merkel nicht „mit hinreichender Klarheit“ darauf hingewiesen habe, „dass sie sich zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde“ (Rn. 130).

Weshalb Angela Merkel auf einen entsprechenden „Disclaimer“ verzichtete, obwohl die Neutralitätsrechtsprechung im Bundeskanzleramt bekannt gewesen sein dürfte, leuchtet angesichts ihres Bemühens um eine Einordnung der Äußerungen als „Vorbemerkung“ nicht recht ein. Vielleicht war es aus Gründen des Protokolls nicht angängig, sich bei der Pressekonferenz explizit „als Mitglied des CDU-Präsidiums“ zu äußern. Dann hätte sie sich aber im Anschluss bei dem auf Auslandsreisen üblichen Gespräch mit Journalisten im Hotel zu Thüringen äußern können, und zwar explizit als CDU-Politikerin. Wenn es stimmt – was die Prämissenkritiker einwenden –, dass die Bürger die Rollen ohnehin nicht auseinanderhalten können, weshalb sollte man es dann mit einem solchen Disclaimer nicht einmal versuchen? Die Befreiung von der Neutralitätspflicht wäre billig zu haben!

Eine Chance hat aber auch die Senatsmehrheit verpasst. Denn bei den angeführten Rechtfertigungsgründen wäre es ein Leichtes gewesen, die Maßstäbe der Neutralitätsrechtsprechung beizubehalten und trotzdem im konkreten Fall auf die Kritiker zuzugehen. Bei Fragen der Regierungsstabilität und der Außenpolitik drängt sich richterliche Zurückhaltung – der vielbeschworene judicial self-restraint – geradezu auf. Im Urteil bleibt der weite Einschätzungsspielraum des Bundeskanzlers hingegen ein Lippenbekenntnis. Das zeigen deutlich die Ausführungen zum Koalitionsausschuss (Rn. 159 ff.), durch dessen Einberufung die Gefahr für die Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung aus Sicht der Senatsmehrheit bereits gebannt gewesen war. Sollte das Gericht eine solche Einschätzung nicht lieber Politikern überlassen? Schließlich geht es nicht um polizeiliche Gefahrenabwehr im Einzelfall, die zu Recht strengen Anforderungen an die Erforderlichkeit unterliegt, sondern um die Beurteilung einer nur schwer zu überschauenden politischen Gemengelage, in der es durchaus geboten sein kann, mehr als nur ein prognostisch geeignetes Mittel der „Gefahrbekämpfung“ einzusetzen.

Die Richterin Wallrabenstein schließlich ließ die Gelegenheit ungenutzt, in ihrem Sondervotum zu zeigen, dass man selbst unter Zugrundelegung der Prämissen der Senatsmehrheit zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können (und womöglich: sollen). Eine solche Hilfsargumentation hätte ihrer Urteilskritik einen zweiten Boden gegeben und ihr zugleich größere Relevanz für die künftige Rechtsprechung verschafft. So dokumentiert das Sondervotum zwar eindrucksvoll den Prämissengegensatz, ebnet aber gerade dadurch nicht den Weg für eine Rechtsprechungsänderung. Denn die Aussichten, dass der Senat in Zukunft seine Maßstäbe insgesamt über Bord wirft, sind gering. Davor lässt die häufig bekundete Sorge um die Autorität des Gerichts wohl selbst diejenigen zurückschrecken, die im konkreten Fall gegen die Äußerungen der Bundeskanzlerin nichts auszusetzen hatten. Aussichtsreicher wäre die Ausweitung der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch eine Zurücknahme der Kontrolldichte, mit der sich die im parlamentarischen Regierungssystem in der Tat fragwürdige Neutralitätspflicht ebenso „entschärfen“ lässt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Wallrabenstein mit ihrem expliziten Dissens allein blieb, obwohl zwei weitere Senatsmitglieder ebenfalls gegen das Urteil stimmten. Aber das ist natürlich Spekulation.

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