
Der gestern schon konstatierte Karlsruher Sommerfeldzug zugunsten der Meinungsfreiheit geht weiter, die 3. Kammer ist nicht zu bremsen: Gestern ging es um die Konstellation, dass die Gerichte Meinungen zu Tatsachen umetikettieren, auf dass sie nicht mehr den Schutz der Meinungsfreiheit genießen. Heute geht es um die Konstellation, dass sie Tatsachenäußerungen verbieten, obwohl sie wahr sind.
In diesem Fall geht es um einen Unternehmer, der auf einem Internet-Portal eine desaströse Bewertung seines früheren Vermieters hinterlassen hatte. Darin hatte – wahrheitsgemäß – geschildert, wie er drei Jahre zuvor sich mit diesem jahrelang um eine Rückzahlung hatte herumstreiten müssen und der Vermieter erst nach Einschaltung der Staatsanwaltschaft und des Gerichtsvollziehers gezahlt hatte, mit dem Fazit, mit dem besagten – namentlich genannten – Herrn werde er „bestimmt keine Geschäfte mehr machen“.
Das ist natürlich schon richtig blöd, wenn so etwas über einen in einem Bewertungsportal zu lesen ist. Aber ist das Grund genug, dem anderen gerichtlich den Mund zu verbieten?
Persönlichkeitsschaden
In diesem Fall nicht, so die Kammer. Auch hier sei eine Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit vorzunehmen, und wenn es darum geht, das Äußern wahrer Tatsachen zu verbieten, dann müsse schon ein Persönlichkeitsschaden zu befürchten sein, der zum Interesse der Verbreitung der Wahrheit außer jedem Verhältnis steht.
Die Kammer bezieht sich dabei auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1998, deren Fan ich in besonderem Maße bin: Damals ging es um eine junge Frau, die als Kind von ihrem Vater über viele Jahre sexuell missbraucht worden war. Als Erwachsene machte sie dies mit großem Engagement öffentlich, trat im Fernsehen auf, bis das OLG Celle ihr dies untersagte: Zwar seien die Anschuldigungen vollkommen wahr, aber der Vater brauche trotzdem nicht hinzunehmen, mit seinem Namen derart „angeprangert“ zu werden, weil ihn das stigmatisiere. Aus diesem Grund verbot das OLG Celle der Frau nicht nur, den Vater beim Namen zu nennen, sondern auch sich selbst.
Dies nahm das BVerfG damals zum Anlass, ein Manifest gegen Opfer-Silencing zu schreiben, das heute noch die Lektüre mehr als lohnt.
Zurück zu unserem Fall: bei dem Eintrag in dem Internet-Portal, so die BVerfG-Kammer, sei es nicht um strafbares Verhalten gegangen, sondern um schleppende Zahlungsmoral. Weshalb der Lebach-Gedanke der Rehabilitation straffällig Gewordener, die nicht durch das grelle Licht der Öffentlichkeit auf Jahre und Jahrzehnte unmöglich gemacht wird, hier schon mal keine große Rolle spielt. Drei Jahre post factum müsse man öffentlich schon noch über die gemachten Erfahrungen mit dem säumigen Zahler berichten dürfen, so die Kammer, und sieht keinen Anlass, demselben nach einer solchen Frist schon ein (untechnisch gesprochen) Recht auf Vergessenwerden zuzubilligen.
Wozu die Meinungsfreiheit gut ist
Mir flößt das großen Respekt ein, was die 3. Kammer (bestehend aus RiVerfG Kirchhof, Masing und Baer) da macht.
Die Justiz macht ihren Job normalerweise dann gut, wenn sie die Rädchen der Gesellschaft gut geölt am Schnurren hält, wenn alles schön ineinander greift und vernünftig und wohl geordnet funktioniert. Die Meinungsfreiheit steht oft quer zu diesem Bestreben. Meinungsfreiheit hat etwas Wildes, etwas Anarchisches. Was die Menschen denken und laut sagen, das ist nicht unbedingt immer wohl geordnet und vernünftig. Ihnen platzt der Kragen. Sie werden laut. Sie sagen, was sie sagen, nicht unbedingt deswegen, weil es zum Wohlgeordnetsein der Gesellschaft beiträgt, sondern weil sie es halt empfinden. Oder denken. Oder weil es einfach die Wahrheit ist.
Dass diese Freiheit nicht zwischen die Räder der wohlgeordnet vor sich hinschnurrenden Gesellschaft gerät, dazu ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit da. Und wenn die Justiz, das Ölkännchen in der Hand, dieses bisweilen nicht so richtig in seinem Wert erkennt, dann ist das Bundesverfassungsgericht zur Stelle, ihr denselben in Erinnerung zu rufen.
Zumal die Freiheit natürlich nicht darin besteht, sich ohne Rücksicht auf irgendetwas aufführen zu können wie ein Berserker. Rücksicht muss man schon nehmen, und wenn nötig, seine Zunge zügeln. Aber umgekehrt muss die Gesellschaft, die dies von mir fordert, auch auf mich Rücksicht nehmen und mir nicht mehr Selbstbeschränkung abverlangen, als verhältnismäßig ist.
Ein Wort noch zur heutigen FAZ: Dort schreibt Christian Geyer im Feuilleton etwas zu der Kammerentscheidung vom Montag, was ich für ziemlich haarsträubenden Unfug (keine Schmähkritik!) halte. Warum, habe ich in meinem letzten Blogpost schon geschrieben. Vielleicht findet sich jemand, der mir erklären kann, ob es irgendeine vertretbare Lesart des Beschlusses gibt, die Geyers Position juristisch stützt. Ich wäre um Belehrung dankbar.