23. November 2018

Maximilian Steinbeis

Wenn die Justiz auch einfach mal keine Ahnung hat

Stellen Sie sich vor, Sie gehen vor Gericht, und die Richterin sagt: Ja, ehrlich gesagt… weiß auch nicht. Bin ich überfragt. Tut mir leid, aber ich habe leider überhaupt keine Ahnung.

Das wäre ein Fall, für den die Rechtsschutzgarantie in Artikel 19 IV Grundgesetz wie gemacht zu sein scheint, oder nicht? Ein Gericht darf sich nicht achselzuckend abwenden, wenn jemand kommt und seine Rechte einklagt. Ein Gericht hat Ahnung zu haben. Ein Gericht muss entscheiden. Was unklar ist, muss geklärt werden, durch Amtsermittlung im Straf- und im Verwaltungsprozess, durch Beweislastregeln im Zivilprozess. Wenn die Richterin etwas nicht selber weiß, dann muss sie halt jemand Sachverständigen fragen, der das weiß. So oder so muss sie den Sachverhalt bestimmen, an den sich eine Rechtsfolge knüpfen lässt. Das ist ihr Job. Dazu ist sie da.

Vor diesem Hintergrund hat der heute veröffentlichte Senatsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts etwas geradezu Verstörendes. Doch, sagt der Erste Senat, das geht. Auch die Justiz kann an die Grenzen des epistemisch Leistbaren gelangen. Und was nicht leistbar ist, kann man auch nicht verlangen.

In dem Fall geht es um Windräder, denen von der Behörde die Genehmigung versagt wurde wegen des naturschutzrechtlichen Risikos, dass die riesigen Rotorblätter umherfliegende Rotmilane erschlagen. Ob dieses Risiko besteht oder nicht und wie groß es ist, weiß aber offenbar keiner genau. Kann sein, kann aber auch nicht sein.

In dieser Situation hatte sich die Behörde für Kann Sein entschieden und die Genehmigung verweigert. Dagegen klagte der Windradbetreiber und verlor: Die Behörde habe eine „naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative“. Was heißt hier Einschätzung, beschwerte sich der Kläger: Wie viele Rotmilane herumfliegen und wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit ist, dass sie von einem Windradflügel erwischt werden, lasse sich doch ermitteln! Das sind doch Tatsachen!

Wenn es anerkannte fachwissenschaftliche Maßstäbe und Methoden gegeben hätte, um das Risiko zu ermitteln, dann hätte der Windradbetreiber dies schon vor dem Verwaltungsgericht vortragen müssen. Da er das offenbar nicht getan hatte, wies das BVerfG seine Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab. Aber die Erkenntnisfragen, die der Fall aufwirft, ließen ihm doch keine Ruhe bzw. schienen ihm attraktiv genug als Anlass für einige Hinweise insbesondere auch an den Gesetzgeber, um sich auch noch zur Begründetheit zu äußern.

Hier gehe es nicht um eine Einschätzungsprärogative, so der Senat, sondern um ein „außerrechtliches tatsächliches Erkenntisdefizit“, in dem es „am Maßstab zur sicheren Unterscheidung von richtig und falsch fehlt“. Ein solches Defizit, so der Senat, begrenzt die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 IV. Die Behörde muss entscheiden – „notgedrungen“. Das Gericht nicht. Es kann in einer solchen Situation einfach der Behörde folgen. Es weiß es ja doch nicht besser.

Doch auch die Behörde muss diese Verantwortung nicht alleine schultern. Sie wird ihr durch den Gesetzgeber auferlegt. Und ein Gesetz, dass verlangt, Unentscheidbares zu entscheiden, ist ein Verfassungsproblem: Rechtsstaats- und Demokratieprinzip verlangen, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber wesentliche Dinge selber regelt und nicht der Exekutive und der Judikative überlässt. „In grundrechtsrelevanten Bereichen darf der Gesetzgeber der Rechtsanwendung nicht ohne weitere Maßgaben auf Dauer Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen ,Erkenntnisvakuum‘ übertragen, das weder Verwaltung noch Gerichte selbst auszufüllen vermögen.“ Wenn die Wissenschaft bei der Schließung dieses Vakuums dauerhaft nicht vom Fleck kommt, muss er ihr Beine machen: fachkundige Gremien einsetzen, oder wenigstens Maßstäbe angeben, nach welchen von mehreren möglichen Methoden die Rechtsanwender beim Ermitteln der Wahrheit vorzugehen haben.

Der Gefahr, dass die Gerichte jetzt mit Hilfe dieses neuen Instruments bei allen möglichen Gelegenheiten Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsaufklärung als vermeintliche „tatsächliche Erkenntnisdefizite“ totschlagen, beugt der Senat mit strengen Worten vor: „Von weiterer Kontrolle abzusehen kommt von vornherein nur dann in Betracht, wenn es tatsächlich an entscheidungsrelevanter, eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnis fehlt.“ Gemeint ist der Fall, dass die Behörde methodisch vertretbar zu Erkenntis A kommt und der Gegner genauso methodisch vertretbar zu Erkenntnis Nicht-A. Ob die Behörde dagegen bei der Auswahl und Anwendung ihrer Erkenntnismethoden oder sonst im Verfahren oder bei der Rechtsauslegung Fehler macht, bleibt natürlich weiterhin verwaltungsgerichtlich angreif- und überprüfbar.

Wie sich diese Entscheidung auf die Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtspraxis auswirken wird, vermag ich nicht zu sagen; wer das kann und per Kommentar teilen mag, immer zu. Bemerkenswert scheint mir der Kick in Richtung Gesetzgeber. Ich bin gespannt, wann das erste Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, weil es es an „untergesetzlicher Maßstabbildung“ hat fehlen lassen. Und ich bin auch gespannt, an welchen Maßstäben das BVerfG dann diese Maßstabbildung messen wird. Was, wenn am Ende die Zumutung, das Unentscheidbare zu entscheiden, in Karlsruhe selber landet?

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