Das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat Mängel, ohne Frage. Aber es enthält mit der Dublin-Verordnung eine Grundentscheidung, die wesentlich ist: Jeder Asylsuchende in der EU soll irgendwo Zugang zu einem Verfahren bekommen. Die Grundentscheidung der Dublin-Verordnung lautet also: Die Mitgliedstaaten können streiten, welcher zuständig ist für eine Person. Aber sie müssen dies in geordneten Verfahren tun. Damit diese Verfahren sicherstellen, dass am Ende immer ein Staat zuständig ist und Menschen nicht ohne Zugang zum Recht hin- und hergeschoben werden. Diese Grundentscheidung steht auf dem Spiel, wenn wir darüber diskutieren, ob Personen nicht einfach direkt an der Grenze zurückgewiesen werden können.
Wer die Dublin-Verordnung nur mit Blick auf den Streit zwischen Staaten betrachtet, mag die Zurückweisung an der Grenze für harmlos halten – dann wird eben einem anderen Staat die Verantwortung zugeschoben. Aber der Zweck der Dublin-Verordnung und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist letztlich der Schutz von Personen. Dieser Schutz ist fundamental gefährdet, wenn Personen zurückgewiesen werden, ohne dass ein anderer Staat zugesagt hat, sie auch aufzunehmen. Deshalb ist das formale Verfahren, in dem die Zuständigkeit geprüft und unter Umständen ein anderer Mitgliedsstaat um Aufnahme ersucht wird, unerlässlich. Mit der Forderung, diese Grundentscheidung aufzugeben, wird über dem Zuständigkeitskonflikt der Zweck des Systems missachtet.
Das Recht ist eindeutig, wie ich in der vorhergehenden Zusammenfassung geschrieben habe. Aber es geht um mehr noch als die Frage, ob man sich völkerrechts- und europarechtskonform verhalten wird. Wenn diese Regeln von einzelnen Staaten gebrochen werden, wird das unter Umständen von anderen Staaten aufgefangen. Wenn die Staaten beginnen, diesen Rechtsbruch zu akzeptieren, dann riskieren wir mitten in Europa das, was Hannah Arendt eindringlich als absolute Rechtlosigkeit von Flüchtlingen beschreibt. Dass Personen letztlich nirgendwo Zugang zum Recht finden, dass ihnen das „Recht Rechte zu haben“ verweigert wird. Es wäre das Ende von Europas Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte[n] des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“. Es wäre das Ende der Idee Europas.
Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann, Teil 1