Es hat sich hier eine durchwegs spannende Debatte zur Frage entwickelt, worüber man denn in einem konstruktiven asylrechtlichen Diskurs sprechen sollte, wenn Staaten etwa mithilfe verwaltungsrechtlicher Fiktionen die Einreise von Asylsuchenden verhindern wollen. Ich meine, eine tiefergehende Betrachtung lässt ein vorerst unüberwindbares Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten und nationalstaatlichem Gestaltungsspielraum erkennen, das von diesem Diskurs nur mit Blick auf die Mängel der internationalen Ordnung aufgelöst werden kann.
Asylrecht erscheint nur oberflächlich als Verwaltungsrecht. Im Kern ist Asyl spätestens seit der Antike als Institution bekannt, die jenen, die ihren Platz in der allgemeinen Ordnung verloren haben, den Schutz eines Souveräns – sei er weltlich oder geistlich – zubilligt. Diese Institution war dadurch stets untrennbar mit der jeweils vorherrschenden Form politischer Organisation verbunden und wies so auch auf wesentliche Defekte derselben hin. Das trifft auch auf modernes Flüchtlingsrecht zu. Die Existenz von Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist mit der Existenz von Staaten und deren Zerfall eng verwoben. Die GFK selbst ist als Reaktion auf rapide Desintegrationsprozesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und als Ausnahme zum Prinzip der sonst nach außen verschlossenen politischen Gemeinschaften zu deuten. Historisch steht sie am Ende der Epoche des absoluten Vorrangs nationalstaatlicher Souveränität. Mit ihrer Hilfe sollte die anomale Situation des Flüchtlings in der sonst auf Reziprozität basierten Beziehung von Staaten untereinander adressiert werden. Bis heute sind es vor allem zerfallende Staaten, die die außerordentliche Figur des Flüchtlings in großer Zahl hervorbringen.
Bekanntlich analysierte Hannah Arendt zeitgleich mit den ersten Entwicklungen dieses Rechts das zugrundeliegende Dilemma der Rechtelosigkeit, das in der Beziehung zwischen Flüchtlingen und Staaten in Folge grassierender Staatenlosigkeit und massenhafter Vertreibungen in Europa sichtbar geworden war. Sie verdeutlichte, dass die Naivität des Glaubens an die Verwirklichung der Menschenrechte von Nicht-Staatsbürgern in einer auf der Annahme nationalstaatlicher Souveränität errichteten und im Zerfall begriffenen Weltordnung mit dem Heraustreten der Figur des Flüchtlings offenkundig wurde. Dessen Ausschluss aus der politischen Gemeinschaft des Herkunftsstaats bedeutete gleichzeitig den Ausschluss aus der gesamten rechtlich gefassten Welt. Das „Recht, Rechte zu haben“ erdachte Arendt als Antwort auf diese absolute Rechtelosigkeit.
Seither hat sich manches entscheidend geändert. So bestimmen Nationalstaaten zwar noch weitestgehend faktisch-souverän über die Frage, wer einreist, wer bleibt und wer nicht. Die Autorität darüber, inwieweit sie dabei legal handeln, haben jedoch andere Institutionen inne. Internationale Abkommen und supranationale Organisationen wurden samt Gerichtshöfen etabliert – dafür konzipiert, das Recht weitgehend unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen zu judizieren. Die Frage, ob das Asylrecht heute – zu dem auch über die GFK hinausreichende Schutzformen gezählt werden müssen – im Sinne eines Rechtsanspruchs Einzelner verstanden werden kann, muss vor diesem Hintergrund eindeutig bejaht werden.
Das ist beachtlich. Einerseits, da die Legitimität von partikularer staatlicher Politik in einer globalisierten Welt praktisch und konzeptionell – nicht nur in der Flüchtlingsfrage, sondern bei sämtlichen Herausforderungen globaler Dimension –, zunehmend bedroht ist und der Ruf nach alternativen umfassenderen Ordnungen stärker wird. Und andererseits, da nicht ohne weiteres zu vermitteln ist, wie politische Gemeinschaften langfristig in gekannter Form fortbestehen können, wenn sie über ihre eigene Zusammensetzung nicht frei verfügen.
Insoweit fordert die Autorität des Asylrechts immer auch den Nationalstaat in seiner derzeitigen Form heraus. Die Beanspruchung des Rechts auf Asyl in der Europäischen Union – das im weitesten Sinne als ein Recht auf effektiven Zugang zu Asyl verstanden werden kann – erweist sich daher nicht nur als Ausdruck eines individuellen Schutzbedarfs. Sie ist als legitime Forderung der Gewährleistung des „Rechts, Rechte haben“ zu sehen. Als solche ist sie geeignet, staatliche Souveränität und damit gleichzeitig die Adäquanz der bestehenden Ordnung in Frage zu stellen. Der Wunsch nach mehr asylpolitischem Spielraum muss dementsprechend als Folge der nachvollziehbaren Verzweiflung staatlicher Politik darüber eingeordnet werden, ein globales Phänomen adressieren und dabei die eigene Legitimität unter Beweis stellen zu müssen.
Es ist nicht überraschend, wenn die Analyse vergangener Jahrzehnte europäischer Asylpolitik zeigt, dass die von Staaten geforderte Gestaltungsmöglichkeit nicht zuletzt dahingehend eingesetzt wurde, kreative Wege zu suchen, um sich vor dem Recht zu verstecken und den internationalen Verpflichtungen nur noch formell statt in der Substanz genügen zu müssen. In extremeren Formen drückt sich der Wunsch nach mehr Gestaltungsspielraum nicht nur noch rechtlich-kreativ aus, sondern vermehrt in offensichtlich fehlerhaften bis bewusst perpetuierten Fehldeutungen des Völker- und Unionsrechts oder gar in der offenen Einforderung eines Primats der Politik gegenüber dem Menschenrecht. Die Folgen sind erheblich. Dieselbe Rechtelosigkeit, die einst für europäische Staaten den Anlass zur Etablierung des modernen Flüchtlingsschutzes geliefert hatte, entsteht heute durch eine Strategie der Externalisierung, in der das Recht zum Gnadenakt verkommt, in neuem Gewand.
Die Politiken der sogenannten Bekämpfung von Fluchtursachen und der Hilfe vor Ort, der Auslagerung von Push-Back-Operationen, der Verdrängung und Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Akteure, der Ausweitung des Grenzschutz-Mandats, der Obergrenzen, des Zäune- und Mauern-Bauens, der Transitzonen, der fiktiven Nicht-Einreisen – und das alles letztlich zum Zwecke der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Verhinderung des Zugangs zu Asyl – sind im Kern und unabhängig von ihrer jeweiligen dogmatischen Einordnung paradigmatisch für einen größeren Zerfallsprozess. Gewissermaßen paradox dabei ist – und das hatte schon Arendt erkannt –, dass die durch Asylverhinderung geförderte Rechtelosigkeit – wenn sich also Personen ohne effektiven Rechtsstatus an den territorialen und rechtlichen Grenzen und Graubereichen der Union aufhalten – zugleich auch die Struktur rechtsstaatlicher Institutionen an sich angreift.
Die Versuche von Staaten, den Zugang zu Asyl trotz menschenrechtlicher Vorgaben einzuschränken oder gänzlich zu beseitigen, können also nur im Kontext grundlegenderer Fragen politischer Theorie sinnvoll erörtert werden. Das bedeutet natürlich nicht, dass jegliche asylrechtliche Beurteilung immer auch Arendt und ihre Nachfolger diskutieren sollte. Insbesondere im Bereich der internen Dimension von EU-Asylpolitik – also nachdem das Non-Refoulement-Prinzip gegriffen hat – sind Felder erkennbar, in denen nicht länger Thema ist, wer dazu gehört und wer nicht. Wird jedoch der Diskurs betreffend Zugang zu Asyl fragmentiert, läuft man einerseits Gefahr, am eigentlichen Thema vorbeizureden. Eine Rechtswissenschaft, die jedes Mal aufs Neue bloß analysiert, inwieweit es Staaten gelingt, sich der rechtlichen Verantwortung zu entziehen, oder sich bei dieser Tätigkeit gar ideengebend beteiligt, kann andererseits sogar in eine desintegrative nationalstaatliche Politik hineingezogen werden.
Paulo Sérgio Pinto de Albuquerque formulierte in seiner Stellungnahme zu Hirsi Jamaa ua gegen Italien, dass „die entscheidende Frage“ letztlich sei, „wie Europa anerkennen sollte, dass Flüchtlinge ‚das Recht [haben], Rechte zu haben‘, um Hannah Arendt zu zitieren.“ Nimmt man diese Aussage ernst, so ist asylrechtlicher Diskurs, der konstruktive Beiträge beabsichtigt, gefordert, mithilfe politischer Theorie zu verstehen, dass eine Überwindung der Dichotomie zwischen Asylrecht und staatlichem Gestaltungsspielraum nicht in juristischem Klein-Klein zu bewerkstelligen ist, sondern einen klaren Blick auf die politische Ordnung und deren Mängel braucht. Und daher ist es nicht hilfreich, mit Staaten Verstecken zu spielen.