Ungarns Mediengesetz ist also ein kleines bisschen abgeändert worden. Das kann man als Erfolg der EU werten, deren Kontrolle anstelle der nationalen Checks and Balances treten kann, wenn diese versagen.
Aber das ist nicht der Punkt.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat in dieser Woche – in Deutschland weitgehend unbemerkt – eine Rede zur Lage der Nation gehalten, die manch Interessantes zum Verfassungsprozess in Ungarn enthält.
Darin benennt Orban, was es in seinen Augen ist, was da derzeit in Ungarn passiert – nichts weniger nämlich als die Wiedergeburt einer Nation:
Wiedergeburt bedeutet, (…) wenn eine Nation die Welt um sich herum verändert. Wenn der Geist der Nation sich aus dem Kerker dunkler historischer Perioden befreit, über den Horizont erhebt und die Handlungen einer Gemeinschaft zu lenken beginnt. In solchen Momenten vollbringen die westlichen Nationen große Dinge: die französische Aufklärung, die englische Industrierevolution, die amerikanische Unabhängigkeit, die deutsche Einheit, die Wende in Mitteleuropa.
Wenn eine Nation die Welt um sich herum verändert. Soso.
Bestimmt alles nur Redewendungen, oder? Politikerpathos halt. Normal. Kein Grund zur Beunruhigung. (düdeldidü)
Der ungarische Geist: Buhuu!
Dann ist von den großartigen Erscheinungsformen des ungarischen Geistes die Rede, von der tausendjährigen christlichen Staatsordnung und von den Heldentaten zur Verteidigung Europas (gemeint: sich mit den Türken gekloppt zu haben).Und dann kommt der hübsche Satz:
Wir haben den ungarischen Geist aus der Flasche gelassen.
Und weiter:
Erneuerung bedeutet in diesem Zusammenhang also die Wiedergeburt der Nation dank der Befreiung des ungarischen Geistes, was wiederum heißt, dass Ungarn im 21. Jahrhundert seinen gebührenden Platz einnehmen wird.
Nein, nein, ich werde das nicht mit Weimar vergleichen, auf keinen Fall, ich werde es nicht tun…
Diesen aus der Flasche gelassenen Geist, so Orban,
vermögen wir (…) in jenem rechtlichen Dokument nicht zu finden, das wir heute als Verfassung Ungarns bezeichnen. Es mag sein, dass Fachjuristen an der Übergangsverfassung noch eine Zeitlang herumtüfteln könnten, für sie ist sie vielleicht akzeptabel, nicht aber für Ungarn. Dies ist nämlich nicht die Verfassung der Ungarn. Sie wurde nicht vom ungarischen Geist geschaffen.
Sondern?
Sie wurde nach sowjetischem Muster ausgearbeitet, als Resultat politischer Pakte geschrieben, und wenngleich großartige Juristen an ihr arbeiteten, ist sie dennoch das Ergebnis von Zwangskompromissen.
Das ist ein starkes Statement über das Dokument der friedlichen Revolution von 1989. Das mit dem sowjetischen Muster bezieht sich auf die stalinistische Verfassung von 1949. Die blieb der Hülle nach bestehen, aber von ihrem Inhalt blieb 1989 nichts übrig.
Mythischer Volkskörper
Dass Orbán die Hülle für die eigentliche Verfassung hält, verbunden mit seinem herablassenden Wort von den „großartigen Juristen“, zeigt, was für einen Verfassungsbegriff er hat: Er sieht die Verfassung als geradezu mythische Äußerung eines einheitlichen nationalen Willens, als Selbsterschaffung und -beschreibung eines imaginierten Volkskörpers Ungarn, im Singular.
Im Unterschied zu was? Im Unterschied zu einem Verfassungsbegriff, der die Verfassung als Verfahrensrahmen begreift, der unterschiedlichsten Interessen und Präferenzen ein friedliches und effizentes Auskommen miteinander garantiert. Ein moderner, pluralistischer Verfassungsbegriff. Den Orbán als „politische Pakte“ und „Zwangskompromisse“ diffamiert.
Orbans Rede schließt wie folgt:
Die Erneuerung ist ein Kampf. Die Erneuerung ist eine Mission.
Vorwärts Ungarn, vorwärts Magyaren!
Übrigens: Ich werde Ende März nach Budapest fahren und mir dort vor Ort ein Bild machen. Wer mir mit Kontakten helfen und Gesprächspartner empfehlen kann, sei hiermit herzlich dazu aufgefordert.
Foto: bkang83, Flickr Creative Commons
