21. Februar 2017

Maximilian Steinbeis

Wolken über Karlsruhe

„Wir sind das Bundesverfassungsgericht!“ An diesen Spruch muss sich jede neue Richter_in gewöhnen, die im Karlsruher Schlossbezirk ihr Amt antritt. Das institutionelle Selbstbewusstsein ist habituell enorm, gepäppelt von jahrzehntelanger, geradezu kanonischer Verehrung der Bevölkerung und gestählt in vielen gewonnenen Konflikten mit verschiedenen Regierungsmehrheiten. Dem Verfassungsgericht kann niemand. Wer sich mit ihm anlegt, der legt sich mit dem Grundgesetz an, und den Kampf kann niemand gewinnen.

Wirklich?

Beim Jahrespresseempfang des Bundesverfassungsgerichts heute war eine deutlich andere Stimmung zu erleben: nachdenklich, besorgt, regelrecht verunsichert. „Manches, an das wir uns gewöhnt haben, ist nicht mehr selbstverständlich“, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. „Der Firnis der Zivilisation ist dünn geworden.“

Die Sorge gilt zunächst der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit generell in Europa. Die Entwicklung in Polen haben die Bundesverfassungsrichter_innen genau verfolgt. Im Oktober waren drei von ihnen bei einer Tagung in Warschau eingeladen, offenbar eine gespenstische Erfahrung. Polen, Ungarn, Tschechien, Türkei, Bulgarien, Rumänien, auch Spanien: Wir könnten „am Anfang einer Entwicklung“ stehen, so Voßkuhle, in der die „Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt in Frage steht“. Die Zeiten, da sich das Gericht auf das Abarbeiten der anfallenden Verfahren konzentrieren konnte, sind vorbei: Allzu viel könne man zwar nicht tun, um den Kolleg_innen in Polen und anderswo zu helfen, heißt es, aber was man tun könne, wolle man tun: Vorträge halten, Interviews geben, informelle Kontakte pflegen, um das Bewusstsein für die Notwendigkeit verfassungsgerichtlicher Kontrolle zu stärken und Präsenz zu zeigen.

Benimm-Kodex für Ausgeschiedene

Die Sorge gilt indessen nicht nur dem Schicksal anderer Verfassungsgerichte, sondern durchaus auch der eigenen Zukunft. Verfassungsgerichte können Urteile fällen, aber Gehorsam erzwingen, das können sie nicht. Sie sind abhängig davon, respektiert zu werden in der Politik und in der Gesellschaft. Wie kontingent und vergänglich dieser Respekt ist, wie schnell er verloren gehen kann, dessen ist man sich in Karlsruhe so bewusst wie nie. Die turbulenten Zeiten, da in Berlin die Unionsfraktion, der Finanzminister und der Bundestagspräsident mit vereinten Kräften auf das Bundesverfassungsgericht und seinen Präsidenten Voßkuhle einprügelten, sind zwar vorbei, aber nicht vergessen. Dass der Gesetzgeber in Berlin mit gezielten Änderungen am Bundesverfassungsgerichtsgesetz dem Karlsruher Gericht das Leben richtig schwer machen könnte, weiß man sehr genau. Was eine andere Mehrheit dereinst mal anzurichten bereit sein könnte, ebenfalls. Polen ist nicht so weit weg.

Eine Neuigkeit, die Voßkuhle zu verkünden hatte, war der Plan, einen Ethik-Kodex zu formulieren – eine Selbstverpflichtung des Gerichts, die regelt, wie sich Richter_innen insbesondere nach ihrem Ausscheiden zu verhalten haben. Konkrete Anlässe nannte Voßkuhle nicht, doch die waren nicht schwer zu erraten: die gut bezahlte Gutachtertätigkeit, mit der so mancher Ex-Richter sein am Gericht erworbenes Renommee in bare Münze umwandelt und politische Präferenzen seiner Auftraggeber mit dem Firnis quasi-verfassungsrichterlicher Autorität versieht, beispielsweise. Der Fall der Ex-Richterin Christine Hohmann-Dennhardt mit ihrem VW-Vorstandsmandat samt goldenem Fallschirm in achtstelliger Höhe war zwar nicht Anlass für die Ethik-Pläne, da bei seinem Bekanntwerden die vierköpfige Arbeitsgruppe am Gericht schon zu tagen begonnen hatte, eignet sich aber natürlich ebenfalls gut als Diskussionsmaterial.

Wann diese Arbeitsgruppe mit dem Kodex fertig sein wird, ist noch offen – ebenso, was drinstehen wird. Es wird nicht nur um das Verhalten nach dem Ausscheiden gehen, sondern auch um Nebentätigkeiten während der Amtszeit. Nicht allen Richter_innen dürfte es leicht fallen, sich ihre gewohnten richterlichen Unabhängigkeiten auf diese Weise beschneiden zu lassen – auch wenn es sich mehr um einen Orientierungsrahmen als um durchsetzbare Regulierung handeln wird: Es gibt keine Dienstaufsicht über das Bundesverfassungsgericht und wird auch künftig keine geben.

Personalkarussell am Ersten Senat

Für Verunsicherung sorgt auch, dass im Ersten Senat drei der acht Richterposten bis Mitte nächsten Jahres neu besetzt werden müssen. Richter Wilhelm Schluckebier wird Ende des Jahres aus Altersgründen ausscheiden, im Frühjahr 2018 läuft die Amtszeit von Richter Michael Eichberger aus, und im Juni erreicht Vizepräsident Ferdinand Kirchhof die Altersgrenze.

Die letzte Personalie ist besonders wichtig, weil Kirchhofs Nachfolger 2020 nach Voßkuhles Ausscheiden der nächste Präsident des Bundesverfassungsgerichts sein wird. Aber auch die anderen beiden werden interessant. Der neu gewählte Bundestag wird es kaum schaffen, Schluckebiers Nachfolger rechtzeitig zu wählen, so dass dieser wohl besser keine Kreuzfahrt buchen sollte als Start in den wohl verdienten Ruhestand – es könnte gut sein, dass er noch eine Weile länger arbeiten muss.

Generell kommt es im ohnehin als eher liberal geltenden Ersten Senat darauf an, die Balance nicht noch weiter nach links zu schieben. Nichts fürchtet man in Karlsruhe mehr, als wie der US Supreme Court als politisch gelabelt wahrgenommen zu werden – ein sichereres Rezept für den Autoritätsverlust. Eichbergers Nachfolger wird vom Bundesrat gewählt, und dort werden sich wohl die Grünen mit ihrer Sperrminorität ausbedingen, bei der Auswahl ein Wörtchen mit zu reden. Kirchhofs Posten wird dagegen von der Union besetzt. Ob deren Rechtspolitiker im Bundestag (ein Bier für jeden, der ohne Google auch nur einen von ihnen beim Namen zu nennen weiß) in der Lage sein werden, eine hinreichend kompetente, durchsetzungsstarke und leidensfähige Staatsrechtsprofessor_in ausfindig zu machen, die obendrein zum Präsidentenamt taugt und – besonders wichtig – sich nach ihrer Wahl von ihren politischen Verpflichtungen gegenüber denen, die ihr zu ihrem Amt verholfen haben, freizumachen weiß? Wir werden sehen.

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