7. Januar 2019

Mathias Honer

Zurück zu den Wurzeln der Wesentlichkeitslehre!

Die Einreisegestattung und die anschließende Eröffnung und Durchführung von Asylverfahren für mehrere hunderttausende Menschen im Spätsommer 2015 sei verfassungswidrig; so wird und wurde es immer wieder von Juristen, Nichtjuristen oder Erfahrungsjuristen behauptet. Das Bundesverfassungsgericht räumte diesen Vorwurf in seiner kürzlich ergangenen Entscheidung in dem von der AfD-Bundestagsfraktion betriebenen Organstreitverfahren nicht aus der Welt. Das mag politisch bedauerlich sein, ist aus juristischer Perspektive aber richtig, denn nicht alle wesentlichen Entscheidungen unterliegen einem Parlamentsvorbehalt.

Missverständnisse über Wesentliches

Wer der Bundesregierung eine „Herrschaft des Unrechts“ unterstellt, verweist typischerweise auf die Verletzung der Prinzipien des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 III GG). Ob das Verhalten der Bundesregierung gegen geltende Gesetze verstieß (Vorrang des Gesetzes), wurde bereits eingehend erörtert. Daneben tritt der Vorwurf, die Einreisegestattung und die Eröffnung und Durchführung von Asylverfahren in dem außergewöhnlichen Umfang hätten einer parlamentarischen Beteiligung in Gestalt eines Parlamentsgesetzes bedurft (Vorbehalt des Gesetzes bzw. Parlamentsvorbehalt). Dieser Gedankengang scheint sich mittlerweile in weiten Teilen der Öffentlichkeit verfestigt zu haben. Die Argumentationskette lautet in etwa so: Der Bundestag habe als das einzige unmittelbar demokratisch-legitimierte Verfassungsorgan über alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens zu entscheiden oder zumindest zu beraten. Da die Einreisegestattung und anschließende Eröffnung und Durchführung von Asylverfahren für mehrere hunderttausend Menschen gewichtige Folgen für das Gemeinwesen mit sich brächten, hätte es eines Parlamentsgesetzes oder eines Parlamentsbeschlusses, mindestens aber einer Parlamentsdebatte bedurft. Da es hieran bisher fehle, verletze das Verhalten der Bundesregierung den Parlamentsvorbehalt.

Geht man davon aus, dass das vorliegend anwendbare Unionsrecht überhaupt Raum für die innerstaatliche Kompetenzordnung – und damit auch einen Parlamentsvorbehalt – lässt, muss gefragt werden, ob das Verhalten der Bundesregierung tatsächlich den Parlamentsvorbehalt verletzte.

Wer diese Frage bejaht, beruft sich typischerweise auch auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Der Gesetzgeber sei „in grundlegenden normativen Bereichen“ dazu verpflichtet, „alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“ (BVerfGE 98, 218 (251)). Auf Basis dieser Rechtsprechung halten es auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einem Gutachten für möglich, dass die Einreisegestattung aus dem Spätsommer 2015 die „Wesentlichkeitsschwelle“ überschreite und sie daher einer gesetzlichen Regelung vorbehalten sei. Angesprochen ist hier die Wesentlichkeitslehre, die mittlerweile zum festen Bestandteil des Verfassungsrechts gehört.

Eine Wesentlichkeitslehre, die zu einem umfassenden Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Entscheidungen des Gemeinwesens führt, entfernt sich allerdings nicht nur von ihrer ursprünglichen Funktion (I.), sondern fußt auf Prämissen, die im Verfassungsstaat des Grundgesetzes in dieser Totalität nicht aufrechterhalten werden können (II.). Beides spricht dafür, dass ein umfassender Parlamentsvorbehalt für alle wichtigen Fragen unter dem Grundgesetz nicht existiert. Entsprechend musste auch der Antrag der AfD-Bundestagsfraktion bereits als unzulässig abgewiesen werden (III.).

Die Wurzeln der Wesentlichkeitslehre

I. Will der Staat in Grundrechte eingreifen, bedarf er dafür einer gesetzlichen Erlaubnis. Das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes zählt zum rechtsstaatlichen Kernbestand und ist daher auch dem Grundgesetz bekannt. Die zahlreichen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte bekunden dies. Das Grundgesetz überträgt dem Gesetzgeber damit eine Art „Grundrechtskompetenz“. Der Verfassungsgeber verspricht sich von der Form des Gesetzes, mit seinen gesteigerten Verfahrenserfordernissen, einen prozeduralen Grundrechtsschutz. Diese verfassungsrechtliche Kompetenzzuweisung ist vom Gesetzgeber zu respektieren; Kompetenzzuweisungen sind im öffentlichen Recht bekanntlich zwingend. In diesem Sinn entschied das Bundesverfassungsgericht in seiner bedeutenden Facharzt-Entscheidung, dass der Gesetzgeber seine vornehmste Aufgabe – die Rechtssetzung – nicht grenzenlos preisgeben dürfe (BVerfGE 33, 125 (158)). In späteren Entscheidungen umschrieb das Bundesverfassungsgericht die Reichweite dieses Delegationsverbots dann mit dem Kriterium der Wesentlichkeit für die Grundrechtsverwirklichung. Sobald und soweit also eine Entscheidung wesentlich für die Grundrechtsverwirklichung sei, müsse der Gesetzgeber entscheiden – so will es die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung. Das Kriterium der Grundrechtswesentlichkeit ist aber auch aus einem weiteren Grund überzeugend, um die Reichweite der gesetzgeberischen Entscheidungspflicht zu begründen: Wo staatliches Handeln erst zur effektiven Verwirklichung eines Grundrechts beiträgt, versagen die herkömmlichen Begriffe der Grundrechtsdogmatik. Eingriff, Leistung und Schutz verschwimmen. Die Schutzbedürftigkeit effektiver Grundrechtsverwirklichung – und damit die Zuständigkeit des Gesetzgebers – werden folglich nur noch teilweise durch den Begriff des Eingriffs angezeigt. Das Kriterium der Wesentlichkeit für die Grundrechtsverwirklichung hilft hingegen weiter. Ob beispielsweise Zulassungsbeschränkungen („Numerus clausus“) für Studienplätze an öffentlichen Hochschulen in die Berufsfreiheit „eingreifen“, ist unklar, denn Studienplätze werden überhaupt erst staatlich geschaffen. Dass Zulassungsbeschränkungen für die Verwirklichung der Berufsfreiheit aber eine „wesentliche Regelungsmaterie“ (BVerfGE 147, 253, Rn. 116) darstellen, ist unverkennbar. Der Gesetzgeber ist gefragt.

Wesentliches nur im Bereich der Grundrechte

Die Wesentlichkeitslehre setzte also bei den Grundrechten und der damit korrespondierenden Kompetenz des Gesetzgebers an. Einige erheben mittlerweile jedoch alles Wesentliche zum Ausgangspunkt des Vorbehalts des Gesetzes und erklären die Grundrechte nur noch zu einem Anwendungsfall.

Nun ist es nicht abwegig, aus den grundrechtlichen und den zahlreichen weiteren im Grundgesetz verstreuten Gesetzesvorbehalten einen Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens abzuleiten. Für einen so verstandenen Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht selbst immer wieder Anhaltspunkte geliefert; etwa, wenn es ausführt, dass der Gesetzgeber alles Wesentliche in „grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung“ entscheiden müsse (BVerfGE 49, 89 (126f.)). Einem umfassenden Parlamentsvorbehalt für alle schlechthin wesentlichen oder politisch umstrittenen Fragen ist letztlich aber auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder entgegengetreten (BVerfGE 98, 218 (251f.)). Zu Recht!

Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Entscheidungen auf Grund des Demokratieprinzips?

II. Ein genereller Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Fragen wird üblicherweise mit einer erhöhten demokratischen Legitimation des Bundestages begründet. An der unmittelbaren personellen demokratischen Legitimation des Bundestages bestehen natürlich keine Zweifel. Wer diese aber zum maßgeblichen Legitimationskriterium erhebt, marginalisiert zwangsläufig alle übrigen Verfassungsorgane. Ihre Hoheitstätigkeit wird gegenüber der des Bundestages zur rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme. In einer solchen Konzeption avanciert der Bundestag zu einer Art Über-Verfassungsorgan. Ein dann nur folgerichtiger Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens überlagert jedoch die fein austarierte Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Das kann nicht im Interesse des Verfassungsgebers gewesen sein, der eine ausdifferenzierte Zuständigkeitsordnung gleichberechtigter Verfassungsorgane geschaffen hat, die ihre Hoheitstätigkeit gegenseitig hemmen und kontrollieren.

Zudem scheint ein so weites Verständnis des Parlamentsvorbehalts auf der Annahme zu beruhen, dass demokratische Teilhabe nur durch eine parlamentarische Entscheidungspflicht sichergestellt werden kann. Der Gedanke kollektiver Selbstbestimmung verlangt aber weder eine Entscheidungspflicht, noch automatisch die des Parlaments bzw. Gesetzgebers: Als – wie weitgehend im 19. Jahrhundert in Deutschland der Fall – die Regierung nicht demokratisch, sondern monarchisch legitimiert war, bedeutete ein Mehr an parlamentarischer Entscheidungsgewalt automatisch auch ein Mehr an Demokratie. Wurde die Regierung zurückgedrängt, wurden automatisch auch das monarchische Prinzip und die Fürstensouveränität geschwächt. Das demokratische Prinzip und die Volkssouveränität wurden gestärkt. Mehr Parlament, mehr Demokratie! Wo aber Regierung und Parlament verfassungsunmittelbar und – auf unterschiedliche Weise – demokratisch legitimiert sind (BVerfGE 49, 89 (125)), ist nicht das eine Organ per se legitimierter als das andere.

Neben einer vermeintlich höheren Legitimation des Bundestages wird gelegentlich dessen Repräsentationsfunktion ins Felde geführt, um ihm einen Vorbehalt in allen wesentlichen Fragen zukommen zu lassen (in diese Richtung BVerfGE 95, 267 (307f.)): Der öffentlich tagende (Art. 42 I 1GG), kraft unmittelbarer Wahl (Art. 38 I 1 GG) die maßgeblichen gesellschaftlichen Interessen abbildende Bundestag solle alle für das Gemeinwesen relevanten Fragen kontrovers und kritisch diskutieren; die unterschiedlichen Positionen damit in das politische Gemeinwesen integrieren. Eine solche Funktion verlangt aber keine Entscheidungspflicht. Den Eigenheiten des demokratischen Prozesses, dem Gedanken repräsentativer Demokratie und dem freien Mandat der Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) wird vielmehr durch ein Diskussions- und Entscheidungsrecht entsprochen.

Entscheidungsrecht statt Entscheidungspflicht

Denn ob Bedarf für eine kontroverse Debatte besteht, wissen die politischen Akteure aus legitimen politisch opportunen Interessen selbst am besten. Den Tatbestand der „Wesentlichkeit für das Gemeinwesen“ dann objektiv-rechtlich bestimmen zu wollen, ist hingegen ungeeignet und überflüssig. Der Vorgang um die Migrationskrise 2015/16 verdeutlicht dies meiner Meinung nach gut: Aufgrund der damaligen parlamentarischen Zusammensetzung hätte eine parlamentarische Entscheidungspflicht wohl kaum eine pulsierende Debatte zum Regierungshandeln mit sich gebracht. Unter geänderten parlamentarischen Zusammensetzungen wäre die Debatte zu diesem Thema kontroverser, würde aber wohl aufgrund legitimer opportuner politischer Eigeninteressen der im Bundestag vertretenen Akteure ohnehin zustande kommen. Einer Entscheidungspflicht kraft Parlamentsvorbehalt bedarf es hierfür nicht. Unter der einen parlamentarischen Zusammensetzung wäre ein solcher Parlamentsvorbehalt also schlicht ungeeignet, unter der anderen nicht erforderlich, um die gewünschte parlamentarische Auseinandersetzung herzustellen. Hilfreicher – und dem parlamentarischen Prozess angemessener – sind da schon die Kontroll- und Beteiligungsrechte der Opposition, die gegebenenfalls weiterzuentwickeln sind: Der Opposition steht es frei, ein Gesetzesvorhaben zu initiieren (Art. 76 I GG), Frage- und Informationsansprüche gegenüber der Bundesregierung geltend zu machen (Art. 38 I i.V.m. Art. 20 I, II GG), einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen (Art. 44 GG) oder eine parlamentarische Debatte zu den gewünschten Themen, auch unter Anwesenheit der Regierungsvertreter, zu erzwingen.

Ein umfassender Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens lässt sich also weder aus Gründen der demokratischen Legitimation rechtfertigen, noch ist er für den parlamentarischen Prozess geeignet oder notwendig. Die Wesentlichkeitslehre und der Parlamentsvorbehalt sind daher auf die Zuständigkeiten des Parlaments zu begrenzen, wie sie sich aus dem Grundgesetz ermitteln lassen: In diesem Sinne kann ein Parlamentsvorbehalt unter anderem für alle wesentlichen Entscheidungen im Bereich effektiver Grundrechtsverwirklichung begründet werden. Der Parlamentsvorbehalt für den Streitkräfteeinsatz lässt sich den wehrverfassungsrechtlichen Bestimmungen, der Parlamentsvorbehalt für ausgabenwirksame Maßnahmen der Haushaltsautonomie (Art. 110 GG) entnehmen. Einen Parlamentsvorbehalt für alles Wesentliche braucht es dafür nicht.

Der Antrag der AfD-Bundestagsfraktion

III. Auch das Bundesverfassungsgericht scheint der hier aufgezeigten Interpretation von Wesentlichkeitslehre und Parlamentsvorbehalt zu folgen; sie liegt der Entscheidung zum Antrag der AfD-Bundestagsfraktion zugrunde. Denn gäbe es einen Parlamentsvorbehalt für alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens, müsste seine Einhaltung auch die Opposition verfassungsgerichtlich überprüfen können. So entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf Rechtspositionen des Bundestages. Ob der Antragsteller dabei das gerügte Verhalten verhindern will oder nicht, ist unerheblich. Da das Bundesverfassungsgericht den Antrag aber bereits an der Antragsbefugnis scheitern ließ, lehnt es offenbar – wie hier vertreten – ebenso einen allumfassenden Parlamentsvorbehalt ab.

Damit kommen allenfalls Oppositionsrechte als rügefähige Rechtspositionen im Rahmen eines Organstreits in Betracht. Für die vergangene Legislaturperiode scheitert eine Rechtsverletzung der AfD-Fraktion jedoch schon daran, dass die AfD dem Bundestag nicht angehörte. Es verbleiben also Rechtspositionen aus der laufenden Legislaturperiode: An der Geltendmachung etwaiger Gesetzesinitiativen, Frage- und Informationsansprüche oder anderweitiger Kontroll- und Beteiligungsrechte wurde die AfD-Fraktion nicht gehindert. Es fehlt also bereits an einer Beschwer. Die durch den Organstreit erhoffte „Veränderung der Welt“ (so der Justiziar der AfD-Bundestagsfraktion bei Stellung des Antrags) blieb aus; sie scheiterte bereits an der Zulässigkeit des Antrags. Auch das ist der Rechtsstaat.

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